Leitartikel

Christian Rainer: Erweiterter Suder-Raum

Kommt die Regierung in Turbulenzen? Vermutlich. Aber nicht zu Sturz.

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Zwischen die Mutmaßungen über die Fortentwicklung der Pandemie zwängen sich zunehmend Prognosen über die Rückentwicklung der Politik. Das ist ein gutes Zeichen, nicht für die Politiker und nicht für das Virus, aber für den Fortgang der Dinge. Die Menschen erweitern ihren Suder-Raum; ein Schritt in Richtung Normalität in der ungerichteten Abnormalität des Jahres 2020. Versuchen wir den Mutmaßungen über die Politik zu folgen und damit der Zukunft ein wenig Richtung zu geben!

Was erwartet uns da in Österreich in den kommenden zwölf Monaten? Zum Teil hängt diese Zukunft natürlich mit Corona zusammen, zum Teil aber nicht. Stellen wir zunächst voran, was seit Neuestem mit Lust gemutmaßt und kolportiert und verbreitet wird! Das Wort „Neuwahl“ macht nämlich die Runde. Im kommenden Jahr würde im Bund gewählt werden. Die Regierung würde neuerlich stürzen.

Nun sprächen die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit – vornehmlich mit Sebastian Kurz – tatsächlich dafür, dass bald wieder eine Legislaturperiode endet. Ich denke jedoch, die Häufigkeit, mit der „Neuwahl“ gezischelt wird, ist vornehmlich ein Ausdruck, der die Orientierungslosigkeit der Bevölkerung angesichts der Orientierungslosigkeit der Regierenden widerspiegelt. „Neuwahl“ heißt also nicht, dass die Demokratie am Zuge ist, um dem innenpolitischen Treiben in italienischer Frequenz ein Ende zu setzen. Es heißt eher, die Gesellschaft hat mitbekommen, dass die da oben gerade nicht wissen, wo es hier unten langgehen wird.

Stimmt ja auch: Das Leben fühlt sich gerade wie eine Endlosschleife an, obwohl wir mitten im zweiten Lockdown erst zum zweiten Mal bei Start und Ziel vorbeischleichen und obwohl die Impfung ohnehin bald wie Manna auf uns herabregnen wird. Für die Regierungstreibenden sind es viele Runden mehr. Jeder Auftritt im Plexiglassarg mit der immer gleich verschiedenen Botschaft muss sich wie eine weitere Schleife anfühlen. Wir können Kurz und Kogler die Orientierungslosigkeit nicht ankreiden, die ihnen von Hinz und Kunz vorgeworfen wird. Die Politik ist zerrissen zwischen den widersprüchlichen Ergebnissen der Corona-Experimente an den lebenden Subjekten, und sie muss zwischen den ebenso widersprüchlichen Forderungen der immer rabiater werdenden Lobbys im Lande lavieren.

Ach ja, zurück zu „Neuwahl“! Und gleich dazu gesagt: Ich glaube nicht, dass diese Regierung im kommenden Jahr scheitern wird. Darauf verwette ich eine Kiste profil-Abos (eine kleine Kiste). Aber warum glauben immer mehr Menschen daran, auch (oder vor allem) „Meinungsbildner“? Was ist der reale Hintergrund hinter dem Unrealistischen?

Wienwahl! Nach der Wahl in Wien sind die Grünen in die Bredouille geraten. „Nach“ der Wahl wohlgemerkt, denn „bei“ der Wahl wurde ein Rekordergebnis erzielt. Dann aber gab es eine Palastrevolte. Der Parteiobfrau wurden Funktionen im Rathaus vorenthalten. Der ideologisch beherztere, der linke Flügel hat die Macht in der Hauptstadt übernommen. Das kann für die türkis-grüne Regierung sehr unangenehm werden: Streit in der mächtigen Stadtpartei und eine diametral andere Ausrichtung. Wenn die Wiener Grünen zündeln, muss Werner Kogler löschen. Sonst brennt die Regierung. Wahrscheinlichkeit: mäßig.
 Wahrscheinlicher ist: Die Regierung kommt wegen Corona ins Trudeln. Die ökonomischen Folgen der Pandemie werden im kommenden Jahr viel deftiger spürbar sein. Möglicherweise wird sich die sogenannte „Wirtschaft“ recht schnell erfangen. Das ist allerdings ein abstrakter Vorgang. Selbst wenn die Konjunktur anspringt und die Finanzmärkte robust stehen bleiben: Die Arbeitslosenzahlen werden steigen, viele Unternehmen in die Insolvenz schlittern. Wahrscheinlich wird die Stimmung sogar schlimmer sein als die Lage.

Als Ursache werden die Österreicher nicht voller Gleichmut das Virus identifizieren. Egal was die Regierung macht oder gemacht hat: Man wird die Politik zur Verantwortung ziehen. Profiteure: die Oppositionsparteien. Vermutlich wird der miserable Zustand von FPÖ und SPÖ deren Profit vorerst begrenzen. Neuwahl wie derzeit bereits diskutiert? Unter diesen Umständen wäre das für Volkspartei und Grüne völlig widersinnig.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.