Christian Rainer: Es ist angerichtet
In der vergangenen Woche schrieb ich hier über „Die Hybris der Regierenden“. „Hochmut, Vermessenheit, Überheblichkeit“, das fand ich im Online-Lexikon zur Verdeutschung des Griechischen. Sieben Tage später lese ich weiter auf Wikipedia und finde: „In antiken griechischen Tragödien wurde Hybris als Auslöser für das Scheitern vieler Protagonisten verwendet, die in ihrer Überheblichkeit die von Göttern gegebenen Befehle und Gesetze ignorierten.“
Hochmut kommt vor dem Gerichtsfall. Denn sieben Tage später ist es nicht mehr Gernot Blümel, über den wir zu befinden haben, weil er den Verfassungsgerichtshof reizte, auch nicht Günther Platter, der – seines halben Teams verlustig gegangen – sagte: „Es könnte eigentlich nicht besser laufen.“ Nun haben wir den Bundeskanzler der Republik zu beurteilen. Er ist Beschuldigter, steht im Verdacht, mit Falschaussagen „Gesetze ignoriert zu haben“. Wir wollen nicht vorverurteilen. Aber Sebastian Kurz selbst geht davon aus, dass es zu Anklage und Verfahren kommen wird, dass also ein Gericht über ihn urteilen wird.
Anders als bei Thomas Schmid oder Gernot Blümel oder Wolfgang Brandstetter steht die Justiz nun nicht in der Kritik und auch nicht der Journalismus. Bei den drei Herren war ein Überschießen in den Mitteln der Justiz behauptet worden. Von wildgewordenen Staatsanwälten war die Rede. Die Medien waren kritisiert worden, weil wir strafrechtlich Irrelevantes, gar Privates publizierten. Jetzt hingegen ist im Augenschein der Anschein offensichtlich. Jeder versteht, warum die Staatsanwaltschaft sich ihrer schärfsten Mittel bedient.
Ein Einschub: Gedankenlos wollte ich auch gleich schreiben, dass sich selbst der Regierungschef seiner notorischen Justizschelte entschlägt. Da fällt mir allerdings ein, dass er es doch nicht lassen kann: Indem er die Gepflogenheiten im Untersuchungsausschuss anprangert, indem er zetert, man wolle bloß keinen schwarzen Kanzler im Lande, greift er indirekt die Vertreter der Anklage an. Sie werden ihren Strafantrag ja auf Basis der Ausschuss- und Chatprotokolle formulieren und im Licht möglicher Widersprüche.
Wie steht es denn um das Verhältnis des Kanzlers zum Rechtsstaat? Judikative: Kurz mag die Staatsanwaltschaft und damit die Justiz nicht. Legislative: Kurz mag den Untersuchungsausschuss und damit das Parlament nicht. Exekutive: Die muss er mögen, darunter fällt unter anderem er selbst als Regierung. Die vierte Säule des Staates, den Journalismus, nutzt der Kanzler, er mag uns aber auch nicht mehr.
Gernot Bauer schrieb vor einem Jahr im profil: „Kurz fehlt der Respekt vor dem Parlamentarismus, den er nur als Assistenzsystem im Regierungsworkflow betrachtet.“ Warum fällt mir jetzt Karl-Heinz Grasser ein, der das Parlament als „Quatschbude“ bezeichnet hatte?
Wie kam das alles? Der erst zweite Kanzler der Zweiten Republik, der als Beschuldigter geführt wird? Erlauben Sie mir, dass ich in diesem Text ein weiteres Mal auf frühere Leitartikel zurückgreife! Ich erinnere mich (noch innerhalb der Wahrheitspflicht), an dieser Stelle mehrfach Unverständnis ob der Aussagen von Kurz und Co. vor dem Ausschuss geäußert zu haben. Einen Text finde ich schnell: Am 1. April 2021 schrieb ich, die Inhalte der Chats „langweilten“ mich, „alltäglicher Postenschacher“, „business as usual“. Aber ich schrieb auch: „Kurz, Blümel, Schmid verhielten sich gefährlich ungeschickt, als sie dementierten, sie hätten die Besetzung des Staatsholding-Managements gesteuert. Im Untersuchungsausschuss gilt Wahrheitspflicht. Achtung, Strafrecht!“ Mir war es – vielleicht als Jurist – nicht erklärlich, warum sich jemand ohne Not so sehr in Gefahr bringt.
Der Kanzler hat schon recht, wenn er die Verhöre durch die Opposition als unbequem weitab von richterlichen Befragungen empfindet. – Seine Volkspartei agiert dort im Übrigen nicht anders. – Aber mit Leichtigkeit hätte er erklären können, dass er im Rahmen der Gesetze selbstverständlich Einfluss auf die Besetzung der ÖBAG-Spitze genommen hat. Stattdessen begab er sich mit eingesprungenem dreifachem Sebastian auf dünnes Eis.
Warum also?
Aus schmerzhafter Erfahrung in drei Jahrzehnten: Politiker sind darauf konditioniert, die Wahrheit zu meiden. Die Technik dazu reicht von heißer Luft über das vorsätzliche Auslassen wichtiger Sachverhalte bis hin zur glatten Lüge. Vor Journalisten und vor der Öffentlichkeit gilt freilich keine Wahrheitspflicht. Die Macht der Gewohnheit im prallen Gefühl türkiser Überlegenheit: So hat man vergessen, dass der Rechtsstaat im Untersuchungsausschuss seine Probe hält.
Wir hingegen werden nicht vergessen: Die ehemalige Parlamentspräsidentin Elisabeth Köstinger hat den Untersuchungsausschuss – vor einer Woche – als „Löwinger-Bühne“ bezeichnet. Sie – vor einer Woche – und der aktuelle Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka – vor drei Wochen – forderten, man solle die dort geltende Wahrheitspflicht abschaffen. Welch ein Zufall!
Zurück zu Wikipedia. Dort steht: „Das Amt des Parlamentspräsidenten ist in Österreich, ähnlich wie der Bundespräsident, eine Institution der Identitätsstiftung und der überparteilichen Politik.“ Wir lernen: Bei Wikipedia gilt nicht die Wahrheitspflicht.
[email protected]
Twitter: @chr_rai