Leitartikel von Christian Rainer

Es liegt an Kurz

Der Kanzler muss dem Land einen Dienst erweisen. Vielleicht seinen letzten.

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Er kam, er sah, er siegte. Das ist lange her. Jetzt ist es an Sebastian Kurz, dem Land einen Dienst zu erweisen: die Unregierbarkeit der Republik zu verhindern und sich zurückzuziehen.

Mit diesem Befund bin ich nicht allein. Es ist kein parteiisch oder parteilich motiviertes Ansinnen: Am vergangenen Freitag fanden sich selbst unter jenen Landeshauptleuten und Regierungsmitgliedern, die zuvor eilends zur Nibelungentreue verpflichtet worden waren, solche, die heimlich auf einen entsprechenden Schritt des Bundeskanzlers hofften. Ich zitiere auch Hubert Patterer, den Chefredakteur der bürgerlichen „Kleinen Zeitung“ in Graz, der nicht im Verdacht steht, zwei Wochen zuvor den Kommunismus gewählt zu haben: „Wenn er das türkis-grüne Projekt und die Kanzlerschaft für die ÖVP retten will, muss er, und sei es auf Zeit, ein Opfer bringen: sich.“

Mein Appell, vermessen für einen Journalisten, doch angemessen in dieser Situation, leitet sich aus drei Erwägungen ab: aus einer abstrakten Begründung, aus der aktuell bekannt gewordenen Schuldenlast des Kanzlers, aus dessen Missverhältnis zur Macht.

Abstrakt heißt: Die Regierungsparteien waren zu Ende der vergangenen Woche in ihren Positionen hoffnungslos verkeilt. Ohne Befreiungsschlag würde die Republik in einen Notbetrieb wechseln. Die Volkspartei hatte sich auf den Verbleib von Sebastian Kurz als Regierungschef eingeschworen. Zugleich, ebenso apodiktisch, hatten die Grünen Kurz als handlungsunfähig deklariert, forderten implizit einen neuen Kanzler-Kandidaten von der Volkspartei. In der Folge wären die Grünen gezwungen, aus einer Regierung mit Kurz auszuscheiden, also einem Misstrauensantrag im Parlament am kommenden Dienstag zuzustimmen. Jede andere Koalition ist freilich ausgeschlossen. Keine der Parteien will mit Kurz regieren. Die FPÖ wiederum hat den Wunsch nach Unterstützung einer – ohnehin todgeweihten – Minderheitsregierung von SPÖ, Grünen und NEOS abschlägig behandelt. An einer Konzentrationsregierung mit FPÖ und ohne ÖVP würden nicht nur die Grünen nicht teilhaben. Somit: Wenn Kurz bleibt, steht das Land ohne Regierung da. Es würde – mitten in der Pandemie – neuerlich Wahlen geben: mit der voraussehbar unveränderten Konstellation nach diesen Wahlen.

Jetzt ist es an Sebastian Kurz, dem Land einen Dienst zu erweisen: die Unregierbarkeit der Republik zu verhindern und sich zurückzuziehen.

Warum aber sollte die Volkspartei nachgeben, warum sollten sich nicht die Grünen erweichen lassen? Weil der Kanzler eine Schuld auf sich geladen hat, von der er sich mit der Unschuldsvermutung nicht freikaufen kann. Denn die Geschichte, die man auf Basis der Chat-Nachrichten aus den Jahren 2016 bis 2018 erzählen kann, ist dicht, unmoralisch, schmutzig. Zum Verständnis dieser Geschichte braucht es keine juristische Wertung. Sebastian Kurz hat den Sturz seines Vorgängers in der ÖVP mit unlauteren Mitteln betrieben. Seine Hofschranzen setzten Umfragen als Waffen ein und nutzten den Charakter und die finanzielle Gier des Verlegers Wolfgang Fellner, um opportune Berichterstattung zu erwirken. Davon wusste Kurz, das förderte er. Aus den vorliegenden WhatsApp-Nachrichten ergibt sich das ohne Zweifel. Dass die Zahlen gefälscht wurden und der Feldzug gegen die eigene Partei und später gegen die SPÖ mit Scheinrechnungen aus Steuergeld finanziert wurde, bleibt vorerst eine Vermutung der WKStA, wie weit Kurz allenfalls eingeweiht war, erst recht.

Kurz redet sich darauf aus, dieses Räderwerk sei von ihm fernstehenden Mitarbeitern des Finanzministeriums betrieben worden. Das ist nicht nur unglaubwürdig, es ist schlicht unwahr: Unter ihnen sind jene Personen, mit denen er seinen Aufstieg orchestriert hat, einige von ihnen arbeiten heute im engsten Umfeld des Kanzlers. Ihn trifft also unmittelbare Verantwortung an der Wurzel seines Werdens, darüber hinaus eine culpa in eligendo für seine Prätorianer. Diese Schuldenlast ist Begründung genug, warum es jetzt an Kurz läge, den Notstand der Republik abzuwenden, nicht an den Grünen.

Ein letztes Argument für einen freiwilligen Rückzug ist zugleich ein Hinweis darauf, warum dieser Schritt nicht zu erwarten ist. Woran ist das System Kurz gescheitert – als Erneuerungsbewegung und jetzt wohl auch de facto? Kurz ist dort gescheitert, wo er scheinbar gewonnen hatte. Das Ziel seines Aufstiegs war immer nur dieser Aufstieg selbst. Er verfolgte Macht um der Macht willen. Es ging um das eigene Potenzial, erst davon abgeleitet  um jenes der Volkspartei. Reziprok ging es um die Schwäche des Gegners, spezifisch um das Niederringen der von Kurz geschmähten Sozialdemokratie. Wirtschaftliche, gesellschaftliche, ökologische Veränderungen sind nicht das Ziel des Sebastian Kurz, sondern nur eine Konsequenz der Machterhaltung, ein Beiwerk.

Wenn aber Machterhaltung das Zentrum seines Universums ist, dann ist der freiwillige Rückzug des Kanzlers unwahrscheinlich. Geht er jetzt nicht, ist das der letzte Beweis dafür.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.