Es war mir eine Ehre
Der kommende Dienstag, der 28. Februar 2023, wird mein letzter Arbeitstag bei profil sein. Ein Vierteljahrhundert zuvor, im April oder Mai 1998, saß ich im Büro von Christian Konrad, hoch über dem Donaukanal im 2. Wiener Gemeindebezirk. Gleißendes Licht, vermutlich ein Hirschgeweih an der Wand, sicher eine pausbäckige Engelsfigur. Konrad, damals Raiffeisen-Generalanwalt und Aufsichtsratspräsident der Kurier-Gruppe, fragte mich, ob ich Herausgeber und Chefredakteur des profil werden wollte. Ich sträubte mich ob der Bedingungen. Das profil stand unter extremer Spannung. Ein Zeitungskrieg gegen das in Gründung befindliche „Format“ des scheinbar übermächtigen News-Verlages der Fellner-Brüder bahnte sich an. Ein Teil der Redaktion war fluchtartig abgewandert. Ich machte Gegenvorschläge, sagte schließlich zu, aber nur bis Ende jenes Jahres, nur für sechs Monate.
Februar 2023 also. Aus sechs Monaten wurden 25 Jahre. Ich blieb 50 Mal länger als 1998 geplant, wurde irgendwann der am längsten dienende Chefredakteur eines deutschsprachigen Nachrichtenmediums. Es war also gut, muss gut gewesen sein. Warum so lange? Ich sehe vier Gründe: Ich hatte selbst unendlich große Freude an dieser Aufgabe. Die profil-Redaktion hat mir ihr Vertrauen geschenkt. Die jeweiligen Eigentümer waren mit unserem Kurs, oft in sehr rauer See, einverstanden. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind so weit zufrieden, dass wir in unserer Arbeit Sinn erkennen, aus Ihren Reaktionen Kraft schöpfen und der Verlag daraus ein Geschäftsmodell machen kann.
Ich gehe aus eigenem Antrieb. Im vergangenen Sommer hatte ich zum ersten Mal mit Erwin Hameseder, direkter Nachfolger von Christian Konrad als Aufsichtsratspräsident, über einen Wechsel gesprochen. Nach 25 Jahren am selben Ort beginnt die Ambition zu schwinden, schleichend, aber doch spürbar gewinnt das Nachdenken über das eigene Leben Oberhand. Vielleicht verlangt die digitale Fortentwicklung auch nach einer anderen Art von Manager in meiner Position. Nein, eigentlich nicht unbedingt. Mit Anna Talhammer wurde jedenfalls eine junge, kraftvolle Nachfolgerin als Chefredakteurin gefunden. Und ja, in meinem Alter kann es gerade noch gut gelingen, Neues zu beginnen.
Doch natürlich gehe ich mit Wehmut, gerade weil mir im Rückblick alles gut erscheint. Die Mühen der Ebene, die Scharmützel draußen und der Alltagstrott drinnen werden himmelhoch überragt von Ereignisgebirgen. Zehn Bundeskanzler, zwölf Vizekanzler, rund 1300 Titelseiten und 1000 Leitartikel bedeuten zwar irgendwann Routine. Aber diese Routine, welche die gesamte profil-Redaktion umfasst, greift Platz auf einem Niveau, das Außenstehende sich kaum vorstellen können. Denn wenn wir Fehler machen oder auch nur Langeweile erzeugen, findet das Niederschlag bei Hunderttausenden Menschen, nicht nur bei Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, die uns wohlgesinnt sind, sondern weit darüber hinaus, auch bei denen, die es gar nicht gut mit uns meinen. Routine also? Ja, das ist es dennoch, denn sonst wäre diese Spannung ja nicht über die Langdistanz zu ertragen.
Ich sprach eben von Wehmut. Wer seinen Beruf mit Herzblut betreibt, versucht sich bestmöglich auf den Moment vorzubereiten, wenn dieses Herzblut aufhört zu fließen, für mich demnach jetzt. Worauf ich freilich überhaupt nicht vorbereitet war: auf Ihre Reaktionen, liebe Leserinnen und Leser. Am 12. Dezember hatte ich meinen Rückzug in der montäglichen Redaktionssitzung bekanntgemacht. Zunächst überraschten mich die Kolleginnen und Kollegen, weil man mir – doch selbst gerade überrascht – spontan breit und emotional dankte, statt über die eigene Zukunft zu grübeln. Dabei muss ja ich dieser Redaktion danken! Dann aber erreichten mich, ich übertreibe nicht, einige Hundert Mails, Briefe, Nachrichten, Anrufe von Ihnen. Mir bleibt dieser wiederkehrende Satz in Erinnerung: „Sie waren Teil meines Lebens.“ Das rührt mich unendlich.
Die Demokratisierung des Diskurses wird zu einer Gefahr für die Demokratie.
Ich will diese fünf Worte aber wirklich nicht auf mich beziehen, sie beziehen sich ja auf das profil, auf das Kollektiv, auf das Magazin, auf unsere Arbeit, auf unseren Journalismus. Mir war über 25 Jahre nicht bewusst gewesen, was offensichtlich hätte sein müssen, vielleicht ging es im täglichen Klein-Klein unter, vielleicht muss der Journalist, die Journalistin es auch ausblenden, um die eigene Position gegenüber einer Empathie zu wahren, die ansonsten zur unproduktiven Verbindung mit der Welt außerhalb der Redaktion führen würde: Sie, liebe Leserinnen und Leser, verbringen jede Woche einige Stunden mit unserer Arbeit, also mit unseren Recherchen, unseren Findungen, unseren Gedanken, unserer Sprach- und Bilderwelt, ja auch mit unseren Emotionen, wo sie sich dann doch im Journalismus niederschlagen. Es sind oft die wertvollsten Stunden, die Sie uns da widmen: der freie Sonntag, Ihre Abendzeit. Wenn Sie uns im digitalen Universum verfolgen, die Podcasts hören, die Newsletter lesen, wir Sie via Social Media erreichen, verbreitert sich diese gemeinsame Basis nochmals enorm.
Kein Wunder also, wenn wir Teil Ihres Lebens sind, sein dürfen. Während wir doch allzu oft nur daran denken, dass Sie umgekehrt Teil unseres Lebens sind, als abstrakte Zielgruppe, die wir erreichen sollen. Aber es ist eben viel mehr: Wir wollen Sie nicht nur erreichen, wir dürfen Sie auch nicht enttäuschen. Sie haben jedes Recht dazu, persönlich angesprochen und individuell behandelt zu werden. Wir versuchen, die Welt – aber eben auch Ihre Welt – für Sie zu ordnen. Das heißt keinesfalls, dass wir Ihnen solcherart Fertigbauten als Gedankenkonstrukt verscherbeln können. Wir sind immer nur Ideenbringer, oft auch ein Widerpart, der zumindest dieselbe Sprache spricht, manchmal vermutlich auch Anlass für Ärger, wenn wir erfolgreich sind, jedenfalls Sammler von belastbaren Fakten.
Ich danke Ihnen, dass ich „Teil Ihres Lebens“ sein durfte. Das profil wird es wenig verändert weiter sein. Wie gesagt: Der Gedanke rührt mich sehr.
Über das vergangene Vierteljahrhundert betrachtet, sehe ich im Journalismus weniger innere Brüche, als die übermäßig strapazierte Schnelllebigkeit vermuten ließe. Ein Beruf als Berufung, daran hat sich nichts geändert. Diese Berufung verlangt unverändert nach einem Ethos, das Neugier mit der Suche nach Wahrhaftigkeit verbindet, nach Fleiß, der den Versuchungen von Nachlässigkeit widersteht, nach einer Haltung, die missionarischen Eifer hintanhält, nach einer Eitelkeit, die sich nur im intellektuellen Hervorbringen niederschlägt. Jene Spur von Unzufrieden-heit mit der eigenen Arbeit, die sich regelmäßig bei uns
einstellt, ist kein Zeichen von pathologisch getriebenem Perfektionismus, vielmehr ist die journalistische Unzufriedenheit von dem Wunsch getragen, die Welt nicht zu enttäuschen. Und ja, geschenkt: Der journalistische Boulevard funktioniert anders. Aber das war vor 25 und 50 und 100 Jahren ähnlich. Vielleicht dreht diese Maschine heute sogar auf niedrigeren Touren.
Was sich im Kern unserer Arbeit dennoch geändert hat: Wir sind weniger selbstgewiss als damals. Sie können es auch weniger arrogant nennen. Zu Beginn meiner Karriere waren Fragezeichen oder gar Personalpronomen auf einer Titelseite verpönt, heute sind sie Standard im sprachlichen Textrepertoire und in unserer Befindlichkeit. Damals verbreiteten wir unsere Rechercheergebnisse und streuten unsere Meinung oft ex cathedra. Heute tun wir das seltener, obwohl es uns öfter vorgeworfen wird. Wir wissen heute nicht weniger, sondern sogar mehr durch die digitale Verfügbarkeit versus Enzyklopädie und Handarchiv. Aber: Erstens ist der Journalismus heute wohl weniger ideologisch aufgeladen als früher. Zweitens muss eben diese universelle Verfügbarkeit von Wissen, die Demokratisierung der Fakten, zu einem feinfühligeren Umgang mit der Wahrheit führen. Die Wahrheitsfindung ist komplexer geworden. Sie muss auf Basis der Fülle an Fakten oftmals im Diskurs erarbeitet werden. Journalisten können nicht mehr schwarz und weiß, rot und blau als Faktum feststellen, da nun viel mehr Schattierungen verfügbar sind als anno dazumal. Oftmals mögen daraus mehrere gültige Wahrheiten entstehen, ohne dass dies gleich Meinungen wären.
Ohne Koketterie: Erlauben Sie mir, dieses neue Herangehen als Demut vor den Unschärfen der Welt zu bezeichnen, auch Demut vor Ihnen. Wider alle Kritik am Journalismus: Das ist kein Bruch, und es ist eine gute Entwicklung.
Ich sprach oben, nach dem vorangegangen Initial, von weniger inneren Brüchen im Journalismus, als zu vermuten wäre. Umso härter sind die durch Außeneinflüsse verursachten Brüche. Die digitale Disruption fegt durch die Redaktionen wie ehedem die Erfindung der Dampfmaschine durch das Transportwesen. Das Internet quetscht die Verlage in einer Zangenbewegung. Zum einen wandert das Inseratenvolumen, eben noch der Löwenanteil unseres Einkommens, ins Netz zu Google, Facebook und Konsorten. Die Riesen im Web agieren global und verbuchen mangels Redakteurinnen und Redakteuren nur marginale Gestehungskosten. Wir müssen uns also mehr und mehr – und in Zukunft fast vollständig – durch Vertriebserlöse, durch zahlende Abonnentinnen und Abonnenten finanzieren. Und genau das, diesen Zahlungsstrom zu generieren, fällt zeitgleich immer schwerer: Text- und Bilderwelten sind im Internet in gigantischem Ausmaß gratis verfügbar. Mit diesem Angebot konkurrieren wir, wenn wir versuchen – vor allem junge – zahlende Kunden im digitalen Raum zu generieren.
An diesem Punkt wird das Fortkommen von Medien verlegerischer Herkunft, von Journalistinnen und Journalisten, von profil zu einer Angelegenheit abseits unseres persönlichen Schicksals. Was heute online verfügbar ist, entspricht selten jenem Ethos, das ich oben skizzierte. Im besseren Fall werden wir mit Unsinn bombardiert, im schlechteren Fall mit gezielter Desinformation. Twitter, Facebook, Instagram setzen die Gatekeeper-Funktion der Massenmedien zunehmend außer Kraft. Blogs-, Online-Foren, Influencer kapern die durch ein wohltemperiertes Werteklima geprägten Filter-Positionen von Journalistinnen und Journalisten. Die Politik hat kein glaubwürdiges Interesse, die immer als störend empfundenen Redaktionen zu stabilisieren. Die Demokratisierung des Diskurses wird zu einer Gefahr für die Demokratie.
Wer wird die nächsten 25 Jahre überleben? Staatlich finanzierte Medien, die sogenannten öffentlich-rechtlichen, werden fortbestehen. Daneben werden sich einige sehr große Verlage behaupten können, ebenso manche mit sehr schmal definierter Zielgruppe, wohl auch eine ordentlich gemachte Zeitung, ein Magazin, ein privater Sender in jeweils einem geografisch definierten Raum. Und profil wird ohne Zweifel dazugehören. Dank uns, dank Ihnen.
Es war mir eine große Ehre. Leben Sie wohl! Adieu.