Christian Rainer: Europa europäisieren. Eine Zwangsbeglückung.
Indem sie ihre Aufgaben skizzierte, beschrieb Ursula von der Leyen am Freitag der vergangenen Woche den Zustand des ihr nun bald anvertrauten Kontinents: „Mein politisches Hauptziel ist die Überwindung von Spaltungen zwischen Nord- und Südeuropa, zwischen Westen und Osten, zwischen kleinen und großen EU-Ländern“, so die designierte Kommissionspräsidentin.
In diesem Satz steckt freilich nicht nur eine Gegenwartsbeschreibung nach Euro-Krise, Flüchtlingswelle und Brexit. Diese Sondereinflüsse haben die Union innerhalb eines Jahrzehnts zwar drei Mal akut an den Rande des Zerfalls gestellt, und mit dem Austritt Großbritanniens bricht tatsächlich erstmals seit seiner Gründung ein Land aus dem Verbund heraus. Doch es wäre ein Trugschluss, in diesen Krisen den Grund für die Gefahr zu sehen, sie sind vielmehr Symptome und Folgen.
Von der Leyens Satz, ihre Analyse, ihre darin enthaltene Programmatik gehen folgerichtig weit darüber hinaus, indem sie die Raison d’Être der Europäischen Union infrage stellen. Was hier als „Überwindung der Spaltung“ bezeichnet wird, ist in Wahrheit ein Hinweis auf den Normalzustand, zu dem der Kontinent in der jüngeren Vergangenheit wider alle Beschwörungen zurückgekehrt ist: Norden und Süden, Westen und Osten, groß und klein – eine Ansammlung von Staaten und Regionen, die in ihrer gesamten Geschichte nur im Sinne von Konfrontationen und temporären Zweckbündnissen miteinander zu tun hatten. Die Union ist also ein Sonderfall für Europa. Kann dieses Europäisieren jemals zu einem haltbaren Dauerzustand führen?
Der Gründungsgedanke der Europäischen Gemeinschaft wird regelmäßig als eine Folge der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges beschrieben. Nie wieder sollten die geografisch nahestehenden Staaten gegeneinander Krieg führen. Diese produktive Bewältigung des Traumas war als abstrakter Über- und Unterbau der Einigung sinnvoll, angesichts von unendlichem Hass und unvorstellbarer Zerstörung auch notwendig, um von einem Tag auf den anderen neue Koordinaten verordnen zu können. Die treibende Kraft hinter den verschiedenen parallelen und überlappenden Einigungsstrukturen war aber von Beginn an die Ökonomie, also betriebs- und volkswirtschaftliches Profitstreben. Das Ganze sollte in einem durch und durch banal-pekuniären Sinn mehr als die Summe der Teile sein. Jede andere Interpretation muss unter Kitschverdacht stehen. Die Überwindung von Grenzen war kein mentaler Akt, sondern bestand zunächst in Freihandelszonen und kulminierte in der Abschaffung von Identitätskontrollen und der gemeinsamen Währung für einen guten Teil der EU-Mitglieder. Auch die Ergänzung der Union durch zentral- und osteuropäische Länder, durch die ehemaligen Trabanten der Sowjetunion, war kein Akt der Nächstenliebe. Die Ausweitung war die Voraussetzung für die friktionsfreie Investitionsstätigkeit westlicher Unternehmen und führte zu größerer Prosperität diesseits und jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs.
Europa definiert sich nicht durch eine gemeinsame – im Sinne von ähnlich erlebte – Geschichte, auch nicht durch eine kongruente Wertewelt.
Das Momentum des ökonomischen Zwangs ist auch das einzige und das effektive Druckmittel, um die stete Einigkeit der Staaten im Detail zu erzwingen: Ohne das Wissen um drohende wirtschaftliche Nachteile würde sich Polen oder Ungarn oder Italien niemals den vielfältigen Verästelungen des EU-Regimes unterwerfen, Griechenland wäre niemals im Euro zu halten gewesen.
Gerne wird über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten spekuliert, wonach es mehrere Kreise von EU-Mitgliedern mit unterschiedlich fortgeschrittener Integration geben könnte – bei Schengen und der Währungsunion sind diese Kreise Realität. Die andere, fundamentalere Bedeutung wird aber kleingeredet: Die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Integration steht in keiner Relation zum Fortschreiten und zum Charakter der Integration in fast allen anderen Lebensbereichen, im Besonderen bei weichen Kriterien, die nicht in harte Paragrafen gegossen werden können. Diese Faktoren meint Ursula von der Leyen, wenn sie etwas missverständlich von einer Spaltung Europas spricht, die es zu überwinden gelte.
Die unterschiedlichen Mentalitäten von Nord und Süd haben sich seit den Anfängen des Einigungsprozesses weit weniger angeglichen, als die gemeinsamen Regelungen vermuten lassen. Noch viel weniger konnte in den drei Jahrzehnten seit dem Kollaps der UdSSR eine Vereinheitlichung der Wertewelten zwischen West und Ost stattfinden; die Annahme, dass dies stattfinden würde, war naiv oder Schönrederei. Europa verfügt bis heute nicht einmal über eine Lingua franca und wird auch keine bekommen.
Europa definiert sich nicht durch eine gemeinsame – im Sinne von ähnlich erlebte – Geschichte, auch nicht durch eine kongruente Wertewelt. Das macht die Europäische Union so instabil und angreifbar. Europas Normalzustand ist nicht die Einigkeit.
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