Christian Rainer: Gerechtigkeit für Klestil (und für Panama)
Zwei Wochen vor der Wahl eines Staatsoberhauptes, das dann mit einiger Wahrscheinlichkeit zwölf Jahre regieren wird, widmet sich dieser Leitartikel zunächst eben jenem Datum. Zu den Panama Papers kommen wir später.
Zumal die beiden in den Umfragen führenden Kandidaten dieses Amt radikal interpretieren wie keiner, der es je innehatte: Alexander Van der Bellen würde eine von der FPÖ geführte Regierung nicht angeloben. Norbert Hofer würde jede Regierung nach persönlichem Ermessen absetzen. Beide würden also nach Gutdünken Neuwahlen in Kauf nehmen oder erzwingen, allenfalls mehrfach – ein tieferer Eingriff in das System ist in einer Demokratie nicht möglich. Im Angesicht einer Verfassung, deren Autoren das Amt des Bundespräsidenten völlig anders konzipiert haben, nämlich repräsentativ und moralisch, kommt die Interpretation durch Van der Bellen und Hofer einer demokratisch legitimierten Präsidentendiktatur nahe, jedenfalls wenn wir uns die Folgen einer fortgesetzten Nichtangelobung oder Entlassung von Regierungen vor Augen führen. Bemerkenswert.
So viel zur moralischen Dimension des Kandidaten
Ich habe das Wort „Präsidentendiktatur“ hier natürlich nicht zufällig gewählt. Andreas Khol verwendete es kürzlich, als er die Regierungsbildung im Jahr 2000 charakterisierte: „Da waren wir ja knapp vor einer präfaschistischen Präsidentendiktatur.“ Im Gegensatz zu den Träumereien, denen Van der Bellen und Hofer nachhängen, ist das bei Khols Beispiel freilich Unsinn und eine Ehrabschneiderei gegenüber Thomas Klestil. Dessen Sohn nennt es „Verbalinjurien“. Klestils Politik beschränkte sich damals auf Bemühungen, eine andere als die schwarz-blaue Koalition herbeizuführen, und auf eine Körpersprache bei der Angelobung, die ins kollektive Gedächtnis der Republik eingegangen ist. Beides entspricht ziemlich genau dem Verständnis der Verfassung von diesem Amt.
Khols persönliche Vergangenheitsbewältigung bringt mich allerdings dazu, von einer Begegnung in jener Zeit zu erzählen – eine Schilderung, die ich dem Kandidaten ohne diesen Anlass wohl erspart hätte. Ich traf Andreas Khol Ende November oder Anfang Dezember 1999 auf seinen Wunsch. Er wollte meine Befürchtungen zerstreuen, dass Wolfgang Schüssel eine Koalition mit Jörg Haiders FPÖ bilden würde. Das Treffen fand am frühen Abend im Do&Co am Wiener Stephansplatz statt. Khol sagte damals: „Falls die Volkspartei mit der FPÖ in eine Koalition geht, scheide ich aus der Politik aus. Das verspreche ich Ihnen.“ Ich kann mich präzise an diesen Wortlaut erinnern, unsicher bin ich mir, ob er dem Versprechen hinzufügte „bei meiner Familie“.
Was ich nicht wusste: Khol führte zu diesem Zeitpunkt bereits Gespräche mit den Freiheitlichen. Während der schwarz-blauen Koalition war er zwei Jahre Klubobmann der ÖVP und vier Jahre deren Erster Nationalratspräsident. So viel zur moralischen Dimension des Kandidaten.
Panama Papers. Sie rücken aus den oben genannten Gründen hier an die zweite Stelle. In diesem Heft werden sie aber an vielen Stellen erwähnt und analysiert. Ich halte die veröffentlichten Daten nicht für die größte Enthüllung in der Geschichte des Journalismus, als die sie bereits qualifiziert wurden. Andererseits will ich die Sache auch nicht kleinreden, schon gar nicht deshalb, weil profil hier nur in der zweiten Linie der Berichterstattung stand. Allerdings ist es tatsächlich nicht das Tatsachensubstrat, das mich beeindruckt. Die endemische Verbreitung von Offshore-Firmen und deren Funktion – meist legal, oft dubios, selten verboten – muss allen bekannt sein, die Medien konsumieren oder Firmenbücher konsultieren. Der betroffene Personenkreis scheint dennoch überschaubar, dessen krimineller Antrieb überwiegend unwahrscheinlich. Robert Treichler kommentiert das auf Seite 63 des aktuellen Hefts.
Ich halte die veröffentlichten Daten nicht für die größte Enthüllung in der Geschichte des Journalismus
Dennoch beeindruckt mich nachhaltig die weit reichende Empörung diesseits des unreflektierten Aufschreis. Sie erscheint mir als deutlicher Hinweis auf Verwerfungen im globalen gesellschaftlichen Gefüge. Einerseits auf Missmut und Misstrauen gegenüber den herrschenden Eliten: In den Fokus der Aufmerksamkeit rückten ja binnen weniger Stunden nicht die Vermögenden dieser Welt, sondern die Politiker – obwohl die Panama Papers nicht von politischen Deals, sondern von Geldgeschäften berichten. Putin wird belastet. Der isländische Premier musste zurücktreten, der britische ist unter Beschuss – beiden ist wiederum gemeinsam, dass ihnen nicht ihr Vermögen geneidet wird, dass ihnen vielmehr Lügen angelastet werden. Misstrauen eben gegen den Charakter der demokratisch Legitimierten.
Andererseits – und da geht es dann doch um den Reichtum: Offshore-Firmen sind die geeignete Chiffre für das ökonomische Gefälle der Weltbevölkerung. Wer sich ihrer bedient, gehört automatisch zu den Wohlhabenden und wird durch ihre Dienste regelmäßig noch wohlhabender. In diesem Sinne weisen die Panama Papers auf den – neben der Erderwärmung – größten Problemfall der Menschheit hin: auf die Ungerechtigkeit, dass der Mensch reich oder arm geboren wird; auf das Weiterschreiben dieser Ungerechtigkeit, indem Reiche reicher werden, während sich Arme kaum ihrer Armut entwinden können.