Christian Rainer: Gibt es die Inflation überhaupt?
In der vergangenen Ausgabe schrieb ich an dieser Stelle nicht nur einen kommentarhaften Text – über den Wert und Unwert des „Streitens“ –, sondern erklärte auch, welche Bedeutung Debatten für profil haben, immer schon hatten und in Zukunft als eigenes Format haben werden.
Auch dieses Mal erscheint es sinnvoll, dass wir uns der Titelgeschichte zunächst mit einem Blick auf die Arbeit der profil-Redaktion nähern. Entwarnung: Wir planen keine spezielle „Inflations-Sektion“ und auch keine wöchentliche Kolumne. Doch die Art und Weise, wie wir uns mit dem Thema beschäftigen, beleuchtet den Charakter jenes spröden Begriffes aus der Nationalökonomie. Sie finden „Inflation“ verteilt über das gesamte Heft, mit Beiträgen in sämtlichen Ressorts von der Innenpolitik bis zum Feuilleton.
Daraus lässt sich eine Antwort auf die hier im Titel gestellte Frage ableiten. „Die Inflation“ gibt es tatsächlich nicht. Sie existiert vielmehr als Überbegriff für sehr viele unterschiedliche Phänomene des wirtschaftlichen Zusammenhaltes eines Staates, einer Währungsunion, der Welt. Nicht genug: Inflation gehört auch zu einer Begriffswolke von gesellschaftlichen Phänomenen wie Armut im breiten Ausmaß und in der Folge der Zahlungsunfähigkeit einzelner Menschen. Das Wort weckt ebenso schnell historische Assoziationen – kollabierende europäische Währungen in den 1920er-Jahren, was wiederum Massenarbeitslosigkeit begünstigte und ein Nährboden für den Nationalsozialismus war. Ohne Zusammenhang dazu: Jede Verhandlung über kollektivvertragliche Lohnerhöhungen nimmt nicht nur abstrakt Bezug auf die Inflation, das jeweilige Ergebnis ist auch Teil der späteren Veränderung von Preisen, steht damit also in einem mathematischen Zusammenhang. Und wenn Wladimir Putin den Westen in Folge des Überfalls auf die Ukraine zwingt, Öl und Gas in Rubel zu bezahlen – beziehungsweise die Devisen bei einer russischen Bank in Rubel wechseln zu lassen –, dann hat er hier die Inflation im Fokus – die Stabilisierung und den Anstieg des zuvor gefallenen Rubel-Kurses, was ihm auch gelungen ist.
Wenn Geld gratis ist, sind auch alle Produkte gratis, alle Preise leere Ziffern. Heureka, das Perpetuum mobile wurde gefunden!
Aber: Ist diese ausschweifende Interpretation eines Wortes nicht die unnötige Verkomplizierung augenscheinlicher Sachverhalte? Bedeutet Inflation nicht ganz einfach, dass jeder Einkauf teurer wird und die Menschen weniger Geld – genauer: weniger Kaufkraft – zur Verfügung haben?
Keinesfalls. Vielmehr ist es so, dass Politiker und Interessensvertreter diese unzulässige Simplifizierung vornehmen, zum Teil aus Überforderung unseres gewählten Personals (das oftmals Prozent und Prozentpunkt nicht unterscheiden will), zum Teil, weil wir es eben mit Vertretern von Interessen zu tun haben. Jene simple Interpretation gilt für sehr viele Mitbürger und Mitbürgerinnen, die so knapp kalkulieren müssen, dass die Erhöhung von Energie-, Treibstoff- und Lebensmittelpreisen katastrophale Folgen hat. Unter den Tisch fällt jedoch zum Beispiel: Geldentwertung ist auch Kreditentwertung. Das betrifft Millionen von Österreichern, und zwar durchaus positiv. Haben Sie kürzlich einen mit effektiv zwei Prozent fix verzinsten Immobilienkredit aufgenommen? Dann kann Ihnen die Spanne zwischen hoher Inflation und niedrigem Zinssatz innerhalb eines Jahrzehnts ein Drittel oder mehr Ihrer Schuldenlast wegfressen, ohne dass Sie einen einzigen Euro zurückzahlen.
Dasselbe gilt für die Staatsverschuldung: Technisch gesehen entschulden sich die Staaten durch die Inflation ebenso wie private Haushalte (und sie mussten schon bisher angesichts der niedrigen Leitzinsen fast nichts für zusätzliche Schulden zahlen). Damit werden freilich wiederum Menschen entlastet, denn es handelt sich ja um Verbindlichkeiten, die der Bevölkerung zuzurechnen sind und dieser Bevölkerung durch Staatsausgaben zuvor zugutekamen.
Also: Die Inflation, unser Freund und Helfer? Einspruch! Keinesfalls. Wenn die Pandemie die größte Gesundheitskrise nach 1945 war und der Ukraine-Krieg die gefährlichste militärische Bedrohung, dann ist die Inflation die heikelste wirtschaftliche Situation im selben Zeitraum. Eine Inflation, die über viele Jahre weit höher liegt als Kredit- und Anlagezinsen, ist außerhalb von failed states, also mitten in vorgeblich gesunden Volkswirtschaften, ein völlig unbekannter Vorgang – und ein absurder. Denn anders formuliert bedeutet das: Geld ist seit Jahren mehr oder weniger gratis. Als mit der Corona-Pandemie die Inflation stieg, wurde das Ausborgen von Geld sogar mit einer Prämie belohnt. Und durch den Krieg wurde diese Prämie nun verdoppelt. Noch einmal weitergedreht: Wenn Geld gratis ist, sind auch alle Produkte gratis, alle Preise nur leere Ziffern. Heureka, das Perpetuum mobile wurde gefunden!
Oder auch nicht. Und die Politiker, die Zentralbanken und die Ökonomen, die uns blindlings in diese Scheinwelt geführt haben, müssen uns da auch wieder herausholen.
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