Christian Rainer: Der Jahreswechsler
Erstens: Gemessen an den Erwartungen, die bei der Angelobung am 18. Dezember 2017 herrschten, hat die Bundesregierung geliefert. Zweitens: Gemessen an den eigenen Ankündigungen ist die Bundesregierung manches schuldig geblieben. Drittens: Befürchtungen, die vor einem Jahr geäußert wurden, haben sich bewahrheitet.
Erstens. Sebastian Kurz hat ziemlich genau das getan, was angekündigt war. Es wurde konservative, bürgerliche, familien- und unternehmerfreundliche, gelegentlich auch sehr rechte Politik gemacht. Wer sich auf inhaltliche Kritik beschränkt, wer die Regierung also an ihren Taten misst, soll dies tun, dabei aber auf dem Boden der Realität und damit beim Wahlergebnis bleiben: Die Wähler wollten Sebastian Kurz als Bundeskanzler. Sie wollten, so alle Befragungen vor einem Jahr, in überwältigender Mehrheit keine Fortsetzung einer Koalition von Sozialdemokratie und Volkspartei. Überdies befand sich die SPÖ in keinem mentalen und personellen Zustand, der eine Zusammenarbeit denkmöglich gemacht hätte. Türkis-Blau war vor einem Jahr ohne Alternative.
Daher sollte man mit Protesten gegen diese Regierung vorsichtig sein, soweit sie sich gegen in Gesetz gegossene Materie richten: Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Donnerstags-Demonstranten (und Mittwochs-Kommentatoren) da nicht immer trennscharf agieren.
Der Zwölf-Stunden-Tag für Arbeitnehmer ist keine Menschenrechtsverletzung. Der vom Kanzler rotwangig präsentierte Familienbonus ist keine Vorbereitungshandlung zur Wiedereinführung des Mutterkreuzes. Die Aufwertung von Schulnoten ist kein Kindesmissbrauch. Und die Neukalibrierung der staatlichen Unterstützung von Menschen ohne Einkommen startet von hohem Niveau und kann ihre Sinnhaftigkeit noch beweisen.
Das sind allesamt konservative Maßnahmen, dem Wirtschaftswachstum wohl zuträglich, zum Teil sogar unter dem Titel höherer Gerechtigkeit argumentierbar, jedenfalls den eigenen Ansprüchen von Türkis-Blau entsprechend.
Zweitens. Ansprüche sind freilich nicht Ankündigungen. Und gemessen an den Ankündigungen fehlen Kurz und Heinz-Christian Strache viele Meter. Man kann das als den Normalfall von Politik bezeichnen: Wahlversprechen werden im Zuge ihrer Umsetzung generell bis zur Unkenntlichkeit heruntergebrochen; zwischen Wortgewalt und Wahrheitsgehalt besteht keine unmittelbare Verbindung. Man kann allerdings auch einen Sonderfall konstatieren: Die Ankündigungen waren vollmundiger als bei vorangegangenen Regierungen.
Die österreichische Bevölkerung hat Kurz & Strache die Übertreibungen nicht übelgenommen. Die Zustimmung zu dieser Regierung ist höher als am Tag der Wahl vor 14 Monaten.
Wenn wir jetzt feststellen, dass sich diese Übertreibungen vor allem rund um die EU-Präsidentschaft konzentrierten, ist das keine Verniedlichung des Missverhältnisses: weil etwa Außenpolitik ohnehin ein Orchideenthema wäre. Denn in diesem Fall war die Außenpolitik Innenpolitik und zugleich der Wahlkampfschlager der nunmehrigen Regierung: Migration, Flüchtlinge, Zuwanderung. Der Kanzler hatte eine gesamteuropäische, wenn nicht sogar globale Lösung der Migrationsthematik in Aussicht gestellt, unter österreichischer EU-Präsidentschaft, also qua Zauberhand innerhalb von sechs Monaten. Der Vizekanzler und seine Partei blieben dabei (siehe nochmals die profil-Geschichte in diesem Heft) an den Rand gedrängt. Aus den Frontex-Bataillonen an den EU-Außengrenzen und den Anlandeplattformen auf dem afrikanischen Kontinent ist nichts geworden.
Die österreichische Bevölkerung hat Kurz & Strache die Übertreibungen nicht übelgenommen. Die Zustimmung zu dieser Regierung ist höher als am Tag der Wahl vor 14 Monaten. Innenpolitisch kam der Regierung da die starke Konjunktur zu Hilfe. Außenpolitisch und damit beim Ausländerthema überdeckten die kollabierenden Flüchtlingszahlen das Scheitern des EU-Vorsitzes in dieser Frage.
Drittens. Zu der Zufriedenheit wider die realen Leistungen der Koalition trug die unerfreuliche Seite der Bilanz bei, jene Seite, an der sich die vor einem Jahr gehegten Befürchtungen bewahrheitet haben: jene Symbolpolitik, die das Bild dieser Regierung und zunehmend auch dieses Kanzlers prägt. Dabei geht es um politische Akte, die unmittelbar keine messbaren Auswirkungen haben, mittelbar und langfristig aber umso größere.
Im Scheinwerferlicht steht der UN-Migrationspakt: Der Rückzug Österreichs von diesen als symbolisch definierten Grundsatzformulierungen wird international heftig kritisiert, auch von konservativen Schwesterparteien der ÖVP. Scheinbar ebenso bedeutungslos ist der BVT-Skandal, den der Innenminister ausgelöst und zu verantworten hat: Abgesehen von einer Handvoll Geheimdienst-Mitarbeitern wäre niemand zu Schaden gekommen, wenn profil und andere den Skandal nicht aufgedeckt hätten.
Allerdings verdeutlichen die Vorgänge, wes Geistes Kind Herbert Kickl und die Seinen sind. Das gilt in ähnlicher Form für die nicht abreißenden Fälle von rechtem Geschichtsrevisionismus: keine unmittelbar Geschädigten, aber eine Verluderung des Weltbilds.
Und es gilt ausgerechnet dort, wo das größte Asset dieser Regierung liegt – beim „Nichtstreiten“, wie der Kanzler es zu formulieren beliebt. Man kann es auch mangelnde Distanz zu einem dubiosen Koalitionspartner nennen.
[email protected] Twitter: @chr_rai