Christian Rainer: Jugendsünden
Nach drei Jahrzehnten Journalismus, nach neun Bundes- und zwölf Vizekanzlern in meiner Zeit als Herausgeber von profil überraschen mich die Inhalte jener WhatsApp-Chats, die in der vergangenen Woche unter kräftiger Mittäterschaft von profil veröffentlicht wurden, überhaupt nicht. Sie langweilen mich geradezu. Dennoch habe ich in der erwähnten Zeitspanne selten ähnlich decouvrierendes Material zu Gesicht bekommen. Selten konnte die Öffentlichkeit derart dicht Erkenntnisse über das Führungspersonal der Republik gewinnen.
Ist es ein Widerspruch, was ich hier eben zu Papier gebracht habe? Lassen Sie mich diese scheinbare Unvereinbarkeit im Folgenden aufklären!
Zum Verständnis, warum ich die Inhalte unspektakulär finde, wollen wir uns vorab in Erinnerung rufen: Die beiden größten innenpolitischen Skandale des beginnenden Jahrtausends sind Zufallsprodukte. Die BUWOG-Affäre, die zwischenzeitlich in der nicht rechtskräftigen Verurteilung von Karl-Heinz Grasser mündete, wäre ohne Finanzkrise 2008 niemals aufgeflogen: Weil die Immofinanz ins Trudeln geraten war, kam es zu Hausdurchsuchungen, bei denen en passant inkriminierende Unterlagen zum BUWOG-Verkauf auftauchten. Ebenso verhält es sich mit dem aktuellen Geschehen. Das Ibiza-Video brachte nicht nur eine Regierung zu Fall: Im Gefolge der Strache-Prahlereien über Casinos und Glücksspiel wurde jenes Mobiltelefon von Thomas Schmid
sichergestellt, das all jene Nachrichten enthielt, über die wir nun sprechen.
Worauf ich hinauswill: Wenn der Zufall derartig werthaltige Fundstücke zutage fördert, können wir im Schluss argumentum a minori ad maius davon ausgehen, dass im Zeitenlauf Dutzende vergleichbare Fälle unerkannt und unbeschrieben an uns vorübergezogen sind.
Doch auch konkret birgt der aktuelle Sachverhalt kein großes Geheimnis: Die Chats beschreiben den alltäglichen Postenschacher, wie ihn jede politische Partei in Österreich auf Bundes-, Landes-, Gemeindeebene seit Menschengedenken betreibt. Ausschreibungen werden maßgeschneidert, Aufsichtsräte nach Färbung und Willfährigkeit selektiert. Es werden Jobs für Günstlinge gesucht, Frauenquoten beklagt, Außenstehende despektierlich charakterisiert. Medien gelten als Widersacher, und man versucht, sie zu manipulieren. Wer sich widersetzt, wird bestraft, selbst wenn es die sancta mater ecclesia ist.
Das ist business as usual. Wer das politische Geschäft für unbefleckt von den Untugenden der Vetternwirtschaft und der Missgunst hielt, gehe nun hin geläutert und in Frieden!
Aber wie gesagt: Das nun aufgetauchte Material ist dennoch spektakulär decouvrierend. Es ist ein Dokument von kindlichem Überschwang und Hybris. Fünf Punkte.
Erstens: Die Verfasser der Chat-Nachrichten haben im Machtrausch in ihre Mobilgeräte gehämmert – von den niederen Chargen über den damaligen Generalsekretär im Finanzministerium Schmid bis zum Kanzler. Wen wundert’s nach der Oktoberwahl 2017. Da wurde auf die Gefahren der Schriftform und die Ewigkeit des Internets vergessen.
Zweitens: Eine weitere gewonnene Wahl später scheint die Machterfülltheit anzuhalten. Kurz, Blümel, Schmid verhielten sich gefährlich ungeschickt, als sie kürzlich dementierten, sie hätten die Besetzung des Staatsholding-Managements gesteuert. Im Untersuchungsausschuss gilt Wahrheitspflicht. Achtung, Strafrecht!
Drittens: Sebastian Kurz hatte eine Politik des neuen Stils versprochen, hatte sie sogar mit neuer Farbe gebrandet. Weil er dieses Bild in Türkis so hoch hängte, fällt es nun tief. „Die Unverfrorenheit des Zugriffs auf Schaltstellen der Republik zertrümmert die Heilserzählung von der Wende“, schreibt „Kleine Zeitung“-Chefredakteur Hubert Patterer.
Viertens: Am Rande wird noch jenes andere Bild beschädigt – es heißt „Weltbild“ und tritt ohnehin nur in Spurenelementen zutage. Die christlich-soziale Partei bedrängt die Kirche wegen ihres christlich-sozialen Engagements; sie macht deren Würdenträger lächerlich. „Rot, dann blass, dann zittrig“ sei der Generalsekretär der Bischofskonferenz gewesen, reportiert Schmid. „Ja super. Bitte Vollgas geben“, schreibt der Kanzler.
Fünftens: „Ich liebe meinen Kanzler.“ „Kriegst eh alles was du willst.“ „Ich bin so glücklich.“ Die Chats sind ein Konvolut von kindischen Bemerkungen, peinlicher Emotionalität, pubertierendem Machismus, halbstarkem Gehabe. Am Schulskikurs geht das gerade noch durch, beim Topmanagement der Republik gerät es lächerlich.
Die Chats beschreiben das Selbstverständnis der jungen türkisen Wilden. Uns geben sie ein neues Fremdverständnis.