Christian Rainer: Krieg den Bärtigen!
Vor zwei Wochen schrieb ich an dieser Stelle, dass die Flüchtlingskrise keineswegs die größte Herausforderung ist, der sich die Europäische Union seit ihrer Gründung stellen musste. Die rezenten Turbulenzen im Euroraum etwa waren in ihren möglichen Auswirkungen weit bedrohlicher, eine Pleite von Spanien oder Italien hätte zu einem gewaltigen Wohlstandsverlust geführt, vielleicht zu einer Vernichtung des Großteils der Geldwerte auf dem Kontinent. Nur die dramatischen Bilder der Flüchtlingsströme, wie sie uns in den vergangenen Tagen wieder erreichten, täuschen eine existenzielle Bedrohung vor – die aber gar nicht uns betrifft; nur das mangelnde Interesse der Regierungen und Lobbys aufgrund der mangelnden ökonomischen Gefahren führten zu der Uneinigkeit und Untätigkeit der EU-Mitglieder – und nicht eine faktische Unmöglichkeit, die Krise zu beenden.
Ich will diese Analyse um drei Bemerkungen ergänzen und um eine tiefergehende und beunruhigende Beobachtung.
Erstens. Wie ungleich gefährlicher die Pleite eines EU-Mitglieds gewesen wäre, wie fragil das abstrakte volkswirtschaftliche Konstrukt von Geldmenge, Schulden, Haftungen, Liquidität ist, zeigt sich aktuell in Österreich rund um die Hypo-Pleite und das Ringen mit den Heta-Gläubigern. Der drohende Kollaps Kärntens unter der Hypo-Zahlungsfähigkeit ist gut mit jener Euro-Krise vergleichbar: So wie eine Pleite Haiderstans wegen der Folgewirkung auf die ganze Republik unter allen Umständen vermieden werden musste, so musste Griechenland im Interesse der EU künstlich am Leben erhalten werden, und so musste erst recht die Zahlungsunfähigkeit anderer, gewichtigerer Euro-Länder verhindert werden.
Zweitens. Ich denke, dass ein Austritt Großbritanniens ungeheure Auswirkungen auf die Union hätte. Wir würden jedenfalls eine Verschiebung der globalen Kräftegleichgewichte sehen, möglicherweise würde der Brexit-Schock eine gewaltige Rezession auslösen. In diesem Sinne halte ich das ausbleibende Interesse am britischen Referendum, das schon im Juni stattfindet, für einen Webfehler im öffentlichen politischen und journalistischen Diskurs.
Österreich hat innerhalb von wenigen Monaten mental aufgerüstet, und damit meine ich nicht, dass wir klüger wurden.
Drittens. Das Unken über ein Scheitern der Union an der Flüchtlingsfrage oder gar einen Zerfall ist ebenso falsch wie das Gerede von der größten Krise Europas. Derartige Befürchtungen wären selbst dann Unsinn, wenn der Streit anhielte, Schengen jahrelang ausgesetzt und Deutschland isoliert bliebe. Aber jetzt ist ohnehin alles anders. Die reale Stacheldrahtpolitik und die abstrakte Rhetorik scheinen zu funktionieren – nicht für die Familien im Niemandsland, aber für die Kohärenz des Kontinents. Insofern wäre eine ketzerische These nun: Das Zusammenraufen so konträrer Politiker wie des autoritären Orbán, des schwächlichen Sozialdemokraten Hollande und der übermächtigen und trotzdem scheiternden Merkel mündet in einer Konsolidierung und damit Stärkung Europas – mit befestigten Außengrenzen.
Schließlich die dann doch beunruhigende Beobachtung: Österreich hat innerhalb von wenigen Monaten mental aufgerüstet, und damit meine ich nicht, dass wir klüger wurden. Vielmehr haben Zuzug und Durchzug all dieser erbarmungswürdigen Gestalten zu einer kriegerischen Haltung der Bevölkerung geführt. Diese zeigt sich in einer Hochkonjunktur bei Pfeffersprays und scharfer Munition, vor allem aber bei der gewendeten Wertigkeit von Polizei und Bundesheer. Der neue Leiter des Verteidigungsressorts wurde schlagartig zum beliebtesten SPÖ-Minister, was nicht nur an dessen Fähigkeiten im Vergleich mit seinem Vorgänger liegt.
Ebenso überraschend sind die kolportierten Erzählungen von Bedrohungen in Relation zur wahren Bedrohungslage: Jeder bärtige Sonnenstudiojunkie wird als IS-Schläfer verdächtigt. Aus dem aggressiven Flirt von Männern mit Migrationshintergrund werden Köln-Szenarien gestrickt. Wegen einer Messerstecherei zwischen Afghanen und Tschetschenen rufen Grünwähler nach einem Zaun rund um ihre Bobolandschaft. Und plötzlich sollen Polizei und Militär, Überwachung und Patrouille her, um eine Bedrohung abzuwenden, die weit und breit nicht vorhanden ist.
Wenn uns an der Sicherheitslage also etwas beunruhigen darf: Das Verständnis der Österreicher von realen Gefahren ist irreal und damit ihr Verhältnis zur Verhältnismäßigkeit des staatlichen Gewaltmonopols ungeklärt.