Christian Rainer: Lernstunde des Parlamentarismus

Christian Rainer: Lernstunde des Parlamentarismus

Jede Verherrlichung des aktuellen Interregnums der österreichischen Innenpolitik ist naiv.

Drucken

Schriftgröße

Die Medien tragen einen guten Teil der Verantwortung für die Gefühlsverirrungen der Österreicher in ihrem aktuellen Verhältnis zu Nationalrat und Regierung. „Das Parlament hat plötzlich alles in der Hand“, titelte eine Boulevard-Zeitung am vergangenen Freitag. Das „freie Spiel der Kräfte“ sei zu einem „bunten Spiel“ geworden, die Parteien hätten „in einem zweitägigen Marathon zahlreiche Beschlüsse gefasst“. „Parlament zündet Turbo“, schreibt wiederum die Gratiszeitung aus dem anderen Yellow-Press-Lager, in diesem Fall mit „bunten Mehrheiten“. Da wurden nicht nur Sprachbilder chaotisch gehängt, vor allem werden hier mit großer Emotion Vorgänge beklatscht, die weit abseits des Sinnes der Bundesverfassung mäandern.

Vergleichbare Huldigungen und Anfeuerungsrufe mussten die Mitglieder der Expertenregierung über sich ergehen lassen. Anders als beim Parlament, wo sich ein Klubobmann dem Regulationsreigen nachgerade euphorisiert hingab, erscheinen die Minister von der Situation eher peinlich berührt. Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein etwa wollte sich partout nicht entlocken lassen, ob sie von der „Antragsflut“ positiv oder negativ „überrascht“ worden ist. Zu Recht.

„Kanzler oder nichts“

Zur Ehrenrettung und als Beispiel für eine Unzahl präziser Verortungen der aktuellen politischen Lage in österreichischen Medien Helmut Brandstätter (kein bekennender Stalinist) im „Kurier“: „Aut Caesar aut nihil“, kritisiert er die Haltung des Bundeskanzlers und anderer, die „vor zwei Jahren für ein Mandat im Nationalrat kandidiert haben, nie aber auch nur eine Sekunde daran gedacht haben, dieses auch anzunehmen“. „Kanzler oder nichts“ sei „ein Ausdruck der Verachtung der gesetzgebenden Institution unseres Landes“.

Als Beispiel für den zweckentfremdenden Umgang mit der Demokratie braucht es also nicht unbedingt die FPÖ, wo zu Redaktionsschluss ein Kuhhandel zur Diskussion stand – ein EU-Mandatsverzicht von „Ich werde meine Unschuld beweisen“-Heinz-Christian Strache im Tausch gegen ein Nationalratsmandat für die global geschätzte Tierlobbyistin Philippa Strache.

Weltverbesserungswillen

Die Welt wird von Missverständnissen regiert und die frisch eingesetzte Regierung wird missverstanden. Bei der Expertenregierung besteht das Missverständnis in einer Geringschätzung des Berufs Politiker und damit des Berufspolitikers. Zweifellos haben viele von ihnen schuldhaft zum Image dieser recht undifferenziert wahrgenommenen Berufsgruppe beigetragen: Inkompetenz, Unehrlichkeit, Schlawinertum, Korruption. Das häufige Auseinanderfallen von Realität und Anspruch ändert jedoch nichts daran, dass jener Anspruch Bestand haben muss, damit Demokratie funktionieren kann.

Politiker müssen, so wie auch Journalisten oder Ärzte oder NGO-Mitarbeiter, ein Berufsbild vertreten, das über den monatlichen Lohnzettel und auch über Pflichtbewusstsein und Berufsstolz hinausgeht. Wenn man dieses Hinausgehende als Weltverbesserungswillen bezeichnet, dann trifft es die Sache gut. Der Wille zur Macht, für den etwa Sebastian Kurz (wie selten ein anderer vor ihm) gescholten wurde, ist für sich kein Makel, sondern eine Voraussetzung. (Es kommt nur darauf an, was man mit der Macht mittelfristig macht, wann sie zum Selbstzweck wird.) Ein Experte wird diese Qualifikation im Regelfall nicht haben. (Ein Sonderfall ist der ehemalige Bildungsminister Heinz Faßmann, der die Kabalen seiner kurzen Legislaturperiode im Interview in der aktuellen Ausgabe voller Subtilität präzise beschreibt.)

Politik ist ein Handwerk

Im Tagesgeschehen besser sichtbar: Politik ist ein Handwerk, das durch Erfahrung, vielleicht auch durch Lebensjahre erlernt werden muss. Auf dem Lehrplan stehen Verhandlungsgeschick, Kenntnis (und wechselseitiges Vertrauen) einer Unzahl von handelnden Personen, Führungs- und Gruppentauglichkeit, Kommunikationsstil, Konditionstraining. Keine dieser Eigenschaften ist zwingende Voraussetzung für die sogenannten Experten, für Politiker hingegen sind alle Eigenschaften zwingend vonnöten.

Wer sich kein Bild von den grundlegenden Fertigkeiten (und reziprok von den Schwächen) eines Politikers machen kann, wird eine Expertenregierung verherrlichen – und dabei übersehen, dass eine Expertenregierung ihr Land mittelfristig mangels Können ins Chaos und mangels ideologischer Orientierung ins Nichts führen würde.

Etwas banaler sieht das Missverständnis über die aktuelle Aktivität des Nationalrats aus. Es hat schon einen Grund, warum es Parteien und Koalitionen und Gesetzgebungsperioden gibt. Fehlen diese Strukturen, herrschen kurzfristiger Opportunismus und Taktik als Tagespraxis, individuell oder für ganze Gruppen. Und weit über das hinausgehend, was als Kollateralerscheinung von Politik ohnehin unabwendbar ist.

[email protected] Twitter: @chr_rai