Christian Rainer: Österreich torkelt
Das Wörterbuch schlägt beim Verbum „torkeln“ folgenden Bedeutungsinhalt vor: „durch Trunkenheit oder einen Schwächezustand verursacht schwankend, taumelnd gehen“. Man ist versucht, an diesem Punkt an zwei Personenschützer zu erinnern, die sich in der Wohnung des Bundeskanzlers unlängst eine große Menge Alkohol zugeführt hatten und daraufhin einen Verkehrsunfall verursachten; vor allem aber an den Bundeskanzler selbst, der daraufhin planlos eine Pressekonferenz einberief, um seine Familie hochemotional zu verteidigen, freilich ohne jenen grotesken Vorgang im privaten Bereich zu erwähnen.
Das ergibt ein schönes Bild, mit dem wir induktiv, also vom Einzelnen zum Allgemeinen hinführend, das Management der Republik beschreiben können. Denn wir wollen hier genau jenen schwankenden Schwächezustand darstellen, in dem sich Österreich seit Monaten befindet, der sich täglich verschlimmert und der durch immer neue, skurrile Minderleistungen der Regierung sichtbar wird.
Ja, richtig: Alles gerät in der zeitnahen Wahrnehmung stets immer schlechter; die Vergangenheit war nur scheinbar besser; die gekommenen und gegangenen Minister, Kanzler, Vizekanzler leisteten nicht mehr und waren nicht besser qualifiziert als die aktuellen; der Schein des Heute blendet uns. Doch die Welt rundum hat alle Stabilität verloren: Ukraine-Krieg, Weltkriegsgefahr, Energiekrise, Inflation, Börsencrash, Corona, Klimakatastrophe. Als Mindestanforderung brauchte es da lokales Personal, das weiß, was es tut, und dies auch verständlich verbreitet. Das haben wir aber nicht. Ein Vergleich mit der Bundesrepublik macht uns sicher: Deutschland entsorgte innert Monaten seinen Pazifismus – unter einer Ampelregierung und ohne Widerstand der Bevölkerung; hat einen Wirtschaftsminister, der wahrhaftig kommuniziert und täglich meterweit über seinen grünen Schatten springt; verfügt über eine (grüne) Außenministerin, die in dem ihr aufgezwungenen Militarismus ebenso pragmatisch agiert.
Eine Impfpflicht, die niemals galt, zeigte niemals Wirkung. Keine Ursache hat also keine Wirkung.
Derweil in Österreich. Hier wurden eben die dümmsten Politikerworte seit Langem gesprochen. Gesundheitsminister Johannes Rauch begründet die Abschaffung der Impfpflicht so: „Die Impfpflicht bringt niemanden zur Impfung.“ Das sähe man an den wenigen Menschen, die sich derzeit impfen lassen. Das bewiesen überdies „Studien“. ÖVP-Klubobmann August Wöginger kerbt direkt daneben: „Wir haben keinen Menschen zusätzlich zum Impfen gebracht.“ Die Herren erklären uns hier, dass eine Impfpflicht, die niemals galt, niemals Wirkung zeigte. Keine Ursache hat also keine Wirkung. Diese Unwahrheit ist dem Menschen nicht zumutbar. Wir werden verar…t und belogen. Wahr ist vielmehr: Die Regierung verscharrt die Karteileiche Impfpflicht, weil Wahlen bevorstehen und der MFG die Lebensgrundlage, der FPÖ Zündstoff entzogen werden.
Was kommt stattdessen? Nichts kommt, denn es gibt keine Planung. Mitglieder der Impfkommission erfuhren von all dem aus den Medien. „Leben mit Covid“, sagt Johannes Rauch. Warum sagt er nicht „Sterben mit Covid“?
Noch einmal zurück nach Deutschland: Die Nachbarn riefen am Donnerstag die zweite Alarmstufe im „Notfallplan Gas“ aus. Deutschland bezog zu Beginn des Krieges 55 Prozent des Erdgases aus Russland, zu Redaktionsschluss am Freitag waren es laut deutschen Medien 35 Prozent. Österreich bezieht 80 Prozent seines Gases aus Russland, wie viel es zu Redaktionsschluss waren, konnte ich in drei Telefonaten mit Ministerien am Freitag nicht eruieren. In Österreich gilt weiterhin die inhaltsleere „Frühwarnstufe“. Österreich hat kein Konzept für die Krise. Die Industriebetriebe bekommen keine Information über Rationierungen im Notfall. Niemand forderte die Menschen auf: „Bitte Energie sparen!“ Ministerin Leonore Gewessler sagt: „Die Lage wird engmaschig beobachtet und stündlich neu bewertet.“ Wirtschaftsminister Martin Kocher sagt: „Es gibt keinen Grund zur Panik.“ Deutschland: 55/35 Prozent Abhängigkeit von Russland. Österreich: 80 Prozent. Man finde den Fehler!
Umfragen: ÖVP und Grüne erreichen gemeinsam etwa 35 Prozent. Wir erinnern uns an keinen Tag in der Zweiten Republik, an dem eine Regierung nur ein Drittel der Bevölkerung hinter sich wissen konnte. Es wird nicht besser werden: Wir stehen vor vier Landtagswahlen. Die Volkspartei muss drei Landeshauptleute austauschen, zwei davon überraschend, einen vielleicht temporär. Die Sozialdemokratie sammelt auch nur Fallobst auf. Bisher ist die Wirtschaftskrise bloß seidenweich bei den Menschen angekommen: Benzin, Lebensmittel. Die Politik beschwichtigt: Valiumreden, Geldgeschenke. Von dem, was bevorsteht, spricht keiner da oben: Verdoppelung der Strom- und Heizungskosten; Preis-Lohnspirale; Arbeitslosigkeit; Versorgungskrise; eine schlimme Rezession über Jahre.
Die FPÖ liegt gleichauf mit der ÖVP. Von der SPÖ trennen sie wenige Prozentpunkte. Wenn alles den Bach runtergeht, können die Freiheitlichen die Sozialdemokratie überholen. Zur Jahrtausendwende sah die politische Landschaft ähnlich aus. Doch damals gab es keinen Krieg, keine Pandemie, keine lokale und globale Wirtschaftskrise. Die Lage ist wirklich sehr gefährlich.
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