Christian Rainer: Sebastian Orbán?
Es ist nicht leicht, Sebastian Kurz in eine pointierte Festlegung zu zwingen. So detailreich das Wechselspiel an die Spitze und an der Spitze der Volkspartei geplant war, so wenig greifbar sind die Konturen des Programms eines zukünftigen Kanzlers Kurz. Das hat schon den Moderator der ORF-"Sommergespräche", Tarek Leitner, in die öffentlich-rechtliche Ungeduld getrieben (was Kurz wiederum angeblich nach eigenem Befund "so nahe wie noch nie an den Rand der Selbstkontrolle" brachte).
Doch man stellt auch außerhalb der Grenzen Österreichs Überlegungen darüber an, wo sich der Außenminister positionieren würde, sollte er die Regierungsgeschäfte übernehmen. Kollegen im Ausland, vor allem aber die diplomatische Community in Westeuropa, blicken deshalb mit besonderem Interesse dem 15. Oktober entgegen, und wir können davon ausgehen, dass dieses Interesse dem Blickwinkel in den Staatskanzleien der europäischen Hauptstädte entspricht.
Am Donnerstag der vergangenen Woche stellte Kurz seine Pläne für den Umgang mit der Europäischen Union vor. Ein guter Zeitpunkt, um dem Außenpolitiker einige Meter nachzuspüren – auch weil jene Pläne einmal mehr bloße Skizzen waren.
Das Interesse an einem Kanzler Kurz samt den damit einhergehenden Befürchtungen betrifft – das überrascht angesichts der Tumulte rund um die schwarz-blaue Regierungsbildung im Jahr 2000 – nicht dessen möglichen Koalitionspartner FPÖ, auch nicht die Tatsache, dass Kurz dieser FPÖ vielleicht das Außenministerium überlassen müsste. Zumal das Finanzministerium zu wichtig und das Innenministerium zu brisant sein könnten. "Der Aufschrei über die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen wäre eher medial und eher ein Gekrächze", erklärte mir ein französischer Politiker vor einigen Tagen: "Unser Fokus liegt anderswo – bei der Frage, ob sich Österreich weiter als Teil der westlichen Wertegemeinschaft sehen würde."
Ein Burschenschafter im Außenamt – unter anderem während der österreichischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 – ist für manche also weniger beunruhigend als ein 31-jähriger christlich-demokratischer Politiker im Kanzleramt.
Das Verhältnis zwischen Berlin und der ÖVP-Zentrale schwankt zwischen Misstrauen und Beleidigtsein.
Das liegt wohl an den Erfahrungen, die Europa mit Kurz gemacht hat, vor allem die Bundesrepublik Deutschland. Anders als viele österreichische Spitzenpolitiker, oft von der anderen Fraktion wie etwa Werner Faymann, begnügte sich der Außenminister nicht damit, die Sonne im Schatten von Angela Merkel zu genießen. Vielmehr ging er in der Flüchtlingsfrage seine eigenen Wege, und die führten ihn auch in sumpfiges Gelände. Bei seinen Bemühungen, die Balkanroute zu schließen, wartete Kurz nicht auf Deutschland oder gar ein koordiniertes Vorgehen der EU, sondern machte gemeinsame Sache mit Mazedonien, Ungarn und weiteren weit weniger westlich orientierten Staaten. Bis heute reklamieren Merkel wie Kurz das Versiegen des Flüchtlingsstroms denn auch für sich. Das Verhältnis zwischen Berlin und der ÖVP-Zentrale schwankt folgerichtig zwischen Misstrauen und Beleidigtsein.
In der Sache hat sich Österreichs Position freilich durchgesetzt, nicht nur bei der Balkanroute, jüngst auch im Verhältnis zur Türkei: Kurz und etwas später Christian Kern forderten ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen. Der Außenminister wurde dafür abgesnobt. Inzwischen sind sowohl Merkel wie auch Martin Schulz an genau dieser Position gegenüber Ankara eingetroffen.
Wäre Kurz ein unverlässlicher Verbündeter für Berlin und Paris?
Wäre Kurz also ein unverlässlicher Verbündeter für Berlin und Paris? Ist er ein verkappter Viktor Orbán, dessen Skrupellosigkeit er tatsächlich höchst ungern öffentlich kritisiert?
Kurz ist im Unterschied zu Kern (und natürlich auch zu Strache) kaum ideologisch unterfüttert. Ein Bekenntnis zur Familie oder zur Verantwortung des Einzelnen ist im Gegensatz zum Klassenkampf (und zum Rassismus) keine weltanschauliche Konzeption. Entsprechend vage lesen sich die ÖVP-Programme. Kurz ist Pragmatiker, hart am jeweiligen Sachverhalt.
Daraus erschließt sich nun auch, warum er in seinen jüngsten Ausführungen zur Europäischen Union die Subsidiarität in den Vordergrund stellte: Solange die Probleme auf regionaler Ebene gelöst werden können, braucht es keine Metaebene. Es lässt aber auch vermuten: Sollte Kurz als Kanzler auf dem internationalen Feld in die Ecke gedrängt werden, würde er ohne Rücksicht auf höher stehende Interessen sein eigenes Spiel spielen. Wenn es sein muss, auch skrupellos.
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