Christian Rainer: Tarnen, Täuschen
1. Im österreichischen Parlament erleben wir nun endlich, was es heißt, den politischen Kräften freies Spiel zu lassen. Tatsächlich finden sich auch Menschen, die für jene Vorgänge Bezeichnungen wie produktiv, konstruktiv, erfrischend oder abwechslungsreich verwenden. Das so zu sehen, bedarf eines freien Spiels großer Naivität. Denn mangels einer Regierung, die von einer Mehrheit der Abgeordneten bestimmt und getragen wird, agieren alle Abgeordneten so, als müssten sie einer Oppositionsrolle gerecht werden. Das schlägt sich in unwürdigen Rededuellen von jedem gegen jeden nieder. Selbst der Parlamentspräsident vergisst sich, sobald er ins Plenum wechselt; er beschimpft von dort aus einen Redner, der dazu freilich mehr als genug Anlass gegeben hat. Die Regierung ist zum hilflosen Zuseher degradiert worden. Pflegegeld, Beamtenrecht, Lex Uber, Glyphosat-Verbot, Wasserschutz per Verfassung. Da wurden viele teure und unsinnige Beschlüsse gefasst, die gar das Nulldefizit 2020 gefährden und den Menschenverstand sowieso. Es herrschen Revanchismus und Opportunismus.
Vielleicht begreifen einige Leute jetzt doch, warum eine Demokratie Regierungsparteien, Koalitionen und Arbeitsprogramme für eine ganze Legislaturperiode braucht.
2. In diesem Tohuwabohu wurden auch Regeln für Parteispenden beschlossen – mit willkürlichen Grenzen und bar jeder Diskussion darüber, ob das der Verfasstheit des Landes zuträglich ist. Eine Zufallskoalition aus SPÖ und FPÖ hat dabei ÖVP und NEOS ins Visier genommen und auch getroffen. Angesichts des Anlasses für die neuen Regeln – das Ibiza-Video – ist es völlig absurd, dass nun nicht die Freiheitlichen zum Opfer der Prahlereien von Strache und Gudenus wurden, sondern andere.
3. Dass es der SPÖ nicht gelungen ist, im Zusammenhang mit den Parteispenden die FPÖ in all ihrer Verdorbenheit vorzuführen, wundert im Rückblick auf die Wochen seit dem Regierungsbruch nicht. Die Taktik der Löwelstraße ist offensichtlich stur auf die unmittelbare Gegenwart ausgerichtet, was gegenüber Kurz und Kickl, den Großmeistern des politischen Spiels, keine besonders gute Strategie ist. Aber neben dieser Hoppatatschigkeit hat die Parteivorsitzende auch noch aktiv danebengegriffen. Frau Rendi-Wagner hat die Kontrolle der Parteispenden durch den Rechnungshof – gemeinsam mit der FPÖ – verhindert. Ihr Argument: Der Rechnungshof würde weisungsgebundene Beamte schicken, während die nun vorgesehenen Wirtschaftsprüfer unabhängige Finanzexperten seien. Das ist nicht nur eine Beleidigung der Experten im Rechnungshof, es ist vor allem ein Affront gegenüber der Verfassung. Demnach sollten dann wohl auch private Sicherheitsdienste die Aufgaben von Polizei und Militär übernehmen, statt den weisungs- und befehlsgebundenen Polizisten und Soldaten. An die Stelle von weisungsgebundenen Staatsanwälten müssten unabhängige Juristen treten – vielleicht sollten generell Schiedsgerichte die staatliche Justiz ersetzen. Und hinweg mit den obrigkeitlich eingebundenen Finanzbehörden und auch Lehrern – Steuerberater und Privattutoren können das Geschäft sicher besser!
Weniger lustig ausgedrückt: Mit ihrem Argument gegen den Rechnungshof hintertreibt die SPÖ die verfassungsrechtlich vorgesehenen Checks & Balances.
4. Derweil in Berlin. Sebastian Kurz besucht Angela Merkel, und er erklärt: „Ich lehne Hinterzimmerdeals grundsätzlich ab. Die letzten Tage waren ein unwürdiges Schauspiel. Das hat dem Image der EU geschadet.“ Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – und vermutet, der Schattenkanzler ohne Sonne sei einfach missgelaunt, weil sein Buddy Manfred Weber nicht Kommissionspräsident wird. Jedenfalls ist das Leben des Sebastian Kurz von vielen Hinterzimmerdeals geprägt. Soweit wir uns erinnern, haben etwa er und Heinz-Christian Strache die Verteilung der Ressorts ihrer Regierung samt der Besetzungsliste nicht in einem würdigen Schauspiel auf der Bühne des Burgtheaters verhandelt und anschließend vom Publikum beschließen lassen. Wir denken auch, dass der Sprung von Kurz an die Spitze der ÖVP von langer Hand geplant war und dieser Plan den Parteimitgliedern nicht vorneweg zur Abstimmung vorgelegt worden ist.
5. Derweil in Brüssel. Ursula von der Leyen soll also Kommissionspräsidentin werden. Formal ist der Vorgang regelkonform, demokratisch. Aber wurden die Europäer dennoch getäuscht, weil nicht der Spitzenkandidat einer Fraktion den Job bekommt? Da gibt es viele richtige Antworten: Nein, weil das Kandidaten-Prinzip nicht bindend ist und kaum ein Wähler die Namen kannte. Ja, weil das Vertrauen aller missbraucht wurde, die sich informiert hatten. Nein, weil der Rat frei bestimmen und das EU-Parlament sich dagegenstellen kann (und selbst keinen Vorschlag gemacht hatte).
Unter dem Strich: Das Ergebnis ist ein Kompromiss zwischen unendlich vielen Interessen. Und ein guter, wie ich meine.
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