Christian Rainer: Vereinigte Staatenlosigkeit
SPD-Chef Martin Schulz forderte am vergangenen Freitag, die EU solle sich „bis 2025 zu den Vereinigten Staaten von Europa mit einer gemeinsamen, föderalen Verfassung“ entwickeln. Wer nicht mitmache, müsse die Union eben verlassen.
Dem letzten Satz kann man ja prinzipiell zustimmen – wer bei der EU Extrawürste will, soll sie anderswo braten. Der Rest, also das Ding, bei dem man da mitmachen möge, ist aber Schmarrn – und damit die ganze Angelegenheit. Was der mächtigste Repräsentant der globalen Sozialdemokratie auf seinem lokalen Parteitag da von sich gab, ist wohl nicht mehr als eine Flucht nach vorne über den Rücken Europas. Der ehemalige Präsident des Europaparlaments versuchte, die Delegierten genau dort zu überrumpeln, wo er sich auszukennen vermeint.
Leider ist die Rede solcherart aber auch zu einem Offenbarungseid geworden. Ausnahmsweise wollen wir Volkes Stimme hier zustimmen, die von „denen da oben“ raunt, wenn sie Spitzenpolitiker generell und besonders jene im längst ein Genre bezeichnenden Brüssel meint: Dieses Brüssel und jenes Straßburg sind mental so weit weg von der Realität der Bürger, wie sie geografisch von ihnen disloziert sind.
Man ist geneigt hinzuzufügen, dass in die EU gerne jene verschickt werden, die innenpolitisch ausgedient haben, und angesichts von Martin Schulz und voll der ungerechten Pauschalisierung tue ich das hiermit.
Martin Schulz war von Brüssel allerdings nach Berlin heimgeholt worden, wird möglicherweise doch noch Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland und nach Jahren der fahlen Repräsentation im Europäischen Parlament somit eine der bestimmenden Figuren auf dem Kontinent. Und nun benimmt er sich wie eine Wöchnerin im Kindbettfieber der verlorenen Wahl, Visionen delirierend, mit denen er nur verstören kann.
Hat nicht eben die Flüchtlingskrise offenbart, wie unsolidarisch Europa nach innen ist?
Glaubt Schulz denn ernsthaft, dass Europa sich innerhalb von acht Jahren zu einem Bundesstaat entwickeln kann? Wenn er es nicht glaubt, ist er einer jener undurchsichtigen Taktiker, von denen die Bürger Europas mehr als genug haben. Wenn er es glaubt, dann ist er ein Tor, der Deutschland irgendwohin führen will, nur nicht dorthin, wo diese Bürger einen Weg sehen.
Hat nicht eben die Flüchtlingskrise offenbart, wie unsolidarisch Europa nach innen ist? Nichts geht bei der Verteilung der Gestrandeten; die EU verklagt ihre Mitglieder Polen, Ungarn und Tschechien nun gar vor dem Europäischen Gerichtshof, weil sie sich der Umverteilung verweigern. Die Krux daran, und die wird arrogant übersehen: Diese Weigerung ist ja nicht auf dem Mist der – zugegeben – unerträglichen Politiker in den genannten Ländern gewachsen, vielmehr entspricht sie dem Willen der Bevölkerung. Den Polen, Ungarn und Tschechen, aber auch den Spaniern, Franzosen und Italienern will man nun eine „Verfassung“ überstülpen, die eine Submission unter einen gemeinsamen europäischen Willen zum Kern haben würde?
Dass Schulz den Brexit ausblendet, ist ja noch irgendwie logisch, wenn er ohnehin nach Friss-oder-stirb-Manier allen Unwilligen den Weisel gibt. Aber mit wem will Deutschland dann eine Union bilden? Mit Deutschland? Hat Schulz die Euro-Turbulenzen vergessen samt griechischen, spanischen und italienischen Nahtoderlebnissen? Apropos Spanien: Da will sich doch gerade Katalonien abspalten; wohl nicht, um sich gleich an Brüssel oder besser noch Berlin anzuschmiegen.
Seit Jahren spricht der Kontinent über die Integration von Ausländern, langsam setzt sich die Realität durch, dass sich syrische, afghanische, tschetschenische, afrikanische Flüchtlinge nämlich keinesfalls in einer Generation eingemeinden lassen. Aber haben die europäischen Politiker nicht begriffen, dass selbst die Integration der europäischen Kulturen wesentlich weniger fortgeschritten ist, als wir es uns wünschen müssten? Die Schicksalsgemeinschaft der Feinde im Zweiten Weltkrieg, auf deren Basis die EU gegründet wurde, war notgedrungen eine perverse Konstruktion, denn das gemeinsame Schicksal bestand ja im wechselseitig zugefügten millionenhaften Leid, also eben in der Feindschaft. Die mag heute, drei Generationen später, verschwunden sein (vor allem wegen der Unterwerfungsgesten der Deutschen), auf Ressentiments reduziert. Aber die Behauptung, Schweden und Portugiesen, Iren und Kroaten, Dänen und Rumänen hätten auch nur im Ansatz ein ähnliches Weltbild, verfolgten gemeinsame Werte und Ziele, ist ein Wunschtraum, ist Unsinn.
Man bedenke: Mit dem Austritt Großbritanniens (Verzeihung Irland!) ist sogar die Lingua franca aller Europäer zu einer Fremdsprache für alle geworden.
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