Christian Rainer: Was die Elite denkt
Möglicherweise ist dieser Kommentar bereits gescheitert, bevor er niedergeschrieben wurde. Jener Ausdruck „Elite“ schillert bis zur Unkenntlichkeit, er ist in seiner Unverbindlichkeit ebenso angreifbar wie in der scheinbaren Determiniertheit, hat einen schalen Beigeschmack, obwohl er ja das Positive herausstreichen sollte. „Elite“: Das sind die da oben, die es sich gerichtet haben, die ihr jeweiliges „Oben“ als Determinante ihres Selbstwertgefühls verstehen, die auf das „Unten“ geringschätzig herabblicken.
Ich widerspreche dieser Einordnung jedoch mit Leidenschaft. Ich verweise darauf, dass die Herabwürdigung der Eliten von extremistischen Parteien rechts wie links (und von deren Eliten) betrieben wird. In Österreich war Jörg Haider der Meister des einschlägigen Knüppelns, er betrieb sein Handwerk als Aufhetzung gegen Einzelne und gegen „das System“. Wahr ist vielmehr: Die repräsentative Demokratie, Unternehmen, Medizin und Wissenschaft, die Zivilgesellschaft brauchen Eliten, um die Menschheit voranzubringen oder auch nur im Status quo zu stabilisieren. Davon abgesehen: Wie anders wollten wir denn Menschen mit herausragenden Fähigkeiten, überdurchschnittlicher Bildung, Reichtum, Einfluss bezeichnen?
Um diese Eliten müssen wir uns Sorgen machen, vielleicht mehr als jemals zuvor in unserer Lebenszeit. Das liegt nicht daran, dass sich die Eliten jüngst verändert hätten. Vielmehr sind die intellektuellen und die praktischen Anforderungen größer denn je. Mit Corona, dem Ukraine-Krieg und dem Klimawandel ist die Menschheit gefährlich nahe an den Rand des Unterganges gerückt. Bei Corona sind wir der Mutationslust eines Virus ausgeliefert (und der Wissenschaftsskepsis der Menschen). Wladimir Putin kann mit einer Ausweitung seines Angriffskrieges jederzeit einen Weltkrieg starten. Gegen die Klimakatastrophe ist weiterhin kein Kraut gewachsen.
In diesem Zusammenhang bin ich es längst leid zu hören, dass diese Regierung oder jene Politiker nun wirklich die schlechtesten seien, die Österreich jemals gehabt hätte. Das ist schlicht Unsinn. Man rufe sich ganz schnell die Vergangenheit mit konkreten Namen in Erinnerung! Aber ja: Die Anforderungen in unserem Überlebenskampf würden nach Besserem rufen und nicht nur nach dem gewohnten Durchschnitt (und beileibe nicht nur in Österreich).
Doch abseits der Politik – was denken die Eliten? Sie bestimmen als Multiplikatoren ja das Geschehen.
Beginnen wir mit einem schmalen Band der Hoffnung! Am vergangenen Dienstag luden wir, lud profil Leserinnen und Leser einmal mehr zu „profil INSIDE“ ein. Es war ein fantastischer Abend mit kluger Debatte über unsere Arbeit, kontroversiell und respektvoll zugleich. Man sagte uns: profil werde besonders für das diskursive und oft ergebnisoffene Herangehen an die Themen der Zeit, auch an investigative Recherchen geschätzt. Ich sage Ihnen: Wir schätzen unsere Leserinnen und Leser – also eine Elite, also Sie –, weil unsere journalistischen Bemühungen geschätzt werden.
Davon abgesehen bin ich weit weniger optimistisch. Kann es denn wirklich sein, dass nicht nur die linken Eliten die USA in ähnlichem Ausmaß für den Ukraine-Krieg verantwortlich machen wie Putins Russland? Diese Meinung hat sich inzwischen tief in das bürgerliche Establishment hineingefressen. Man hört von Konzernvorständen und Spitzenbeamten, aktiv und im Ruhestand: Amerika sei der Initiator und Profiteur dieses Krieges. Joe Biden sei ein Schwächling und ein Falott, stünde unter der Kuratel einer sich die Hände reibenden Rüstungsindustrie. Da will dann keiner mehr unterscheiden, ob sich Herr Putin vom Westen nur subjektiv bedroht gefühlt hatte oder ob es eine vorsätzliche Provokation gegeben hätte. Schon ab dem 24. Februar hatten ja viele Unternehmer gemeint, man solle die Russen ruhig in der ohnehin korrupten Ukraine wüten lassen – keine Waffenlieferungen, damit das alles schnell enden würde. Angesichts des Wirtschaftskrieges verbreitet sich dieser Wunsch jetzt pandemisch. Eine Diskussion über Österreichs Neutralität und die NATO ist ohnehin unmöglich.
Apropos pandemisch: Da warnen nur Ärzte und Wissenschafter (und Journalisten) – generisches Maskulinum – vor der nächsten Corona-Woge.
Am schlimmsten stellt sich aber die Haltung der „Eliten“ zum Klimawandel dar. Die Rede von der notwendigen Transformation bleibt in der Industrie Lippenbekenntnis (oder auf der Zeitachse des Hundertjährigen Kalenders). Hinter vorgehaltener Hand, oft genug auch lautstark, wird Leonore Gewessler als Totengräberin der Republik bezeichnet. Mit Schadenfreude wird der Pragmatismus der deutschen Grünen bedacht, die Aufrüstung des Kohlekraftwerkes Mellach als Waterloo der österreichischen gefeiert. Ein Doyen des heimischen Wirtschaftsjournalismus schrieb gar über den „tiefen Sturz vom hohen moralischen Ross“ der Grün-Politiker. Hat der Mann keine Kinder, denen jene Moral einst ein Leben trotz Klimawandel ermöglichen könnte?
Die Befindlichkeit der österreichischen Elite: Sie ist gelegentlich ermutigend, aber meist verstörend.
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