Christian Rainer: Was „Koste es, was es wolle“ wirklich kostet
Zu Ende der vergangenen Woche wurden wir kurzfristig daran erinnert, dass die Welt nicht nur aus Corona und den daraus folgenden Mühen des Alltags besteht. „Wir“ erscheint in Österreich allerdings übertrieben: Denn in diesem Land der Sparbücher und der Häuslbauer, also in einem Land mit wenig Aktienbesitz und vielen Immobilienkrediten, gehört der regelmäßige Blick auf die Finanzmärkte nicht zum Tagesablauf.
Was also war geschehen? Zwischen Börsenschluss am Donnerstag und Börseneröffnung am Freitag waren die Kurse abgestürzt, die Indizes wie DAX und Euro Stocks 50 um gut drei Prozent gefallen. Die amerikanischen Märkte eröffneten mit ähnlichen Verlusten. Der Grund für diesen Einbruch, den heftigsten seit vielen Monaten, lag einmal mehr weit außerhalb ökonomischer Basisdaten und tief drinnen im Hokuspokus der Börsenpsychologie: Die Nachricht von einer neuen Variante des Coronavirus in Afrika hatte sich verbreitet, und schon war die Welt um eine vierstellige Milliarden-Dollar-Summe des global über 100 Billionen schweren Aktienvermögens ärmer geworden.
Wer nun sagt – wie ich eben –, Aktienkurse horchten nun einmal mehr auf Zauberformeln als auf die Regeln eines ordentlichen Geschäftsmannes, der vergisst: Die Wirtschaft hat in der Corona-Krise generell alles hinter sich gelassen, was jeder von uns als Basis seines eigenen Haushaltens hegt und pflegt. Allerdings ist die ökonomische Vernunft schon einige Jahre zuvor verloren gegangen. Nehmen wir den kleinen Crash vom Freitag zum Anlass, um uns diesen Irr- und Widersinn an einigen Beispielen vor Augen zu führen!
So ist zum Beispiel der Wirtschaftseinbruch durch Covid-19 – vielfach als der schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet – die erste Wirtschaftskrise, bei der die Menschen nach der Krise über mehr Geld verfügen als zuvor, jedenfalls in den reichen Industrienationen. Das liegt daran, dass die Konsumenten während der Krise viel weniger Geld ausgaben, aber durch staatliche Maßnahmen nicht weniger Einnahmen hatten – sei es durch Stützung des Arbeitsmarktes, sei es durch Kostenersatz. Daher kann nun mehr konsumiert werden, und die Volkswirtschaften erholen sich rapide. Das wiederum führt dazu, dass die Aktienmärkte trotz anhaltender Pandemie einen historischen Höchststand nach dem anderen erreichten.
Alles paletti also? Mitnichten! Möglich ist das nämlich nur, weil schon zuvor etwas eingetreten war, das eigentlich nicht sein dürfte: Geld ist gratis, und daher kann der Staat es auch großzügig verteilen. „Koste es, was es wolle“? Es kostet eben nichts, die Neuverschuldung der Republik ändert kaum etwas an den insgesamt für die Staatsschuld zu zahlenden Zinsen. Denn diese Zinsen sind seit einigen Jahren inexistent, ja sogar negativ. Wer sich Geld ausborgt, um damit etwas zu kaufen, muss für das Borgen kaum zahlen. Das heißt zum Beispiel: Ich kann mir um eine Million Euro, die ich gratis von der Bank bekomme, ein Haus kaufen und darin so lange gratis wohnen, bis die Zinsen wieder steigen (was niemand erwartet). Dann kann ich das Haus verkaufen und die Million zurückzahlen. (In der Realität muss ich minimal Zinsen zahlen und selbst einen kleinen Teil des Kaufpreises zur Verfügung stellen.)
Dasselbe gilt für ein Unternehmen oder für Kunstwerke, die ich kaufe. Das bedeutet: Eigentum zur Miete, zur Nutzung oder zur Bewirtschaftung zu erwerben, kostet fast nichts. Salopp formuliert: Vermögen ist um nichts zu haben und alles wert.
Es war etwas eingetreten, das eigentlich nicht sein dürfte: Geld ist gratis, und daher kann der Staat es auch großzügig verteilen. „Koste es, was es wolle“? Es kostet eben nichts.
An diesem Paradoxon verzweifeln Wirtschaftswissenschafter, und sie sehen sich mangels historischer Erfahrung außerstande, diesen „Hokuspokus“ mit ihrem Instrumentarium zu erklären. Die Notenbanken, denen längst angst und bange wurde, könnten die Zinsen – also den Preis des Geldes – zwar erhöhen. Das tun sie aber nicht: bis vor Kurzem mit der Begründung, man wolle die Konjunktur nicht abwürgen, inzwischen aber vor allem, weil die nun höher verschuldeten Länder kollabieren würden, müssten sie Zinsen zahlen.
Ist Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, jetzt auch angst und bange? Es kommt noch schlimmer: Durch die Inflation ist die Nutzung von Eigentum nicht nur gratis, wir werden sogar noch darüber hinaus belohnt und bezahlt, wenn wir Eigentum erwerben. Jene erwähnte Wohnung nämlich wird derzeit allein durch die Inflation um gut drei Prozent jährlich mehr wert, während ich kaum ein Prozent Zinsen zahle. Der Kredit schmilzt also in Relation zum Wert der Wohnung auch ohne Rückzahlung dahin und verschwindet (sehr) langfristig irgendwann beinahe. Habe ich zwei Wohnungen gekauft, kann ich ohne Rückzahlung und ohne Vermietung eine durch den Verkauf der anderen endgültig ins Eigentum übernehmen.
Dieser Logik wohnt gar kein Zauber inne. Sie ist bar jeder Vernunft. Sie ist der Anfang vom Ende jeder Volkswirtschaft. Die Illusion, man könne die Corona-Krise zum Nulltarif bekämpfen – „Koste es, was es wolle“ –, wird die Zeit bis zu diesem Ende verkürzen.
[email protected]
Twitter: @chr_rai