Wendezeiten?
Die profil-Redaktion ist sehr flach organisiert – trotz aller Titel wie „Chefredakteur“, „Ressortleiter“, „Artdirektor“, die Sie im Impressum aufspüren können. Das bedeutet, jenes kleine, hochintelligente, menschlich unbegrenzt verlässliche Team diskutiert so gut wie alles vorab, was später publiziert wird. Es wird über Ideen, Inhalte, Recherchen, konkrete Geschichten, Fotos informiert und gesprochen. Vielleicht gerade wegen dieser Kultur von umfassendem Wissen und wechselseitigem Vertrauen ist eine „Beauftragung“ via Hierarchie beinahe undenkbar. Was in dieser Redaktion nicht durch Überzeugung als richtig und passend empfunden wird, entsteht nicht als journalistisches Produkt.
Eine vergleichbare Struktur und Arbeitsweise ist selbst im traditionell diskursfreudigen Medienumfeld selten oder einzigartig, so erzählen mir Kolleginnen und Kollegen bei anderen Zeitungen. Aber das Ganze funktioniert dennoch hervorragend im Ergebnis und darüber hinaus befriedigend für Journalistinnen und Journalisten, die ihren Beruf aus Berufung gewählt haben und nicht bloß, um die Butter auf ihr Brot zu verdienen.
Und damit finde ich die Verbindung zu der Ihnen hier vorliegenden Ausgabe: Das Jahresendheft in seiner 20. Ausgabe entstand genau dieser eindeutigen und doch fragilen Konstitution der Redaktion entsprechend. Wir hatten über die Jahre verinnerlicht, dass diese Ausgabe kein Rückblick sein darf, sondern der neuen Geschwindigkeit des globalen digitalen Lebens geschuldet ein Scharnier zwischen den Jahren sein muss: eine Vorausschau basierend auf Vergangenem (wie guter Journalismus generell sehr häufig). Innerhalb von wenigen Minuten innert einer Redaktionssitzung wuchs dabei das Thema „Zeitenwende“ aus dem Nachdenken heraus. Und innerhalb der Tage darauf entstanden Ideengeschichten und Geschichtenideen, die sich direkt aus der Kreativität der Einzelnen in der Redaktion speisten. Sie fielen wie Puzzlesteine ins große Ganze. Als Arrondierer und selbst Autor leitete der einzigartige Sebastian Hofer das Projekt. (Er war dabei unserem geliebten, im vergangenen Jahr jung verstorbenen Sven Gächter gefolgt.) Artdirektion und Fotoredaktion leimten kunstvoll die Verbindung zwischen den Teilen.
Auch nach einem Vierteljahrhundert als Herausgeber und Chefredakteur bei profil und mit dem nun für Sie fast fertiggestellten Produkt vor mir empfinde ich dieses Werden als pure Magie.
Lassen Sie mich vom publizistischen Werden abschweifen, gegen Ende werde ich dorthin zurückkommen! Mein inhaltlicher Beitrag zu „Wendezeiten“: die beiden von mir als tiefste Einschnitte empfundenen Veränderungen in 25 Jahren.
Am 24. Februar begann Russlands Krieg gegen die Ukraine. Eigentlich hatte der Krieg schleichend schon 2014 mit der Krim begonnen. Deren Annexion wog damals aber so leicht, dass der Westen Wladimir Putin weiter freundlich begegnete, die Geschäftsbeziehungen noch intensivierte (mit Österreich als Vorhut und nachgerade hofierend). Dann aber 2022: die Implosion unserer inneren Weltordnung, weil die äußere Weltordnung explodierte. Die Friedensordnung des Westens, die seit 1945 gehalten hat, ist verschwunden. In Europa herrscht Krieg. Wenige Hundert Kilometer vor Wien wird mit einem Arsenal aus fast allen verfügbaren Waffengattungen gekämpft, die der Mensch erdacht hat. Nur die Atombombe kam bisher nicht zum Einsatz: Ob das so bleibt und aus dem lokal begrenzten Konflikt ein Weltkrieg resultiert, ist unklar. Ein Restrisiko von einigen Prozent für dieses Ende der Zivilisation besteht, ein seit Jahrzehnten beiseite geschobener, verdrängter Gedanke.
In Wahrheit ist dieser Krieg allerdings schon jetzt nicht lokal begrenzt, sondern ein Weltkrieg, der bloß noch auf für beide Seiten fremdem Boden gefochten wird. Die Nato steht mit Worten, Waffen und Logistik im Kampf gegen Russland. Die Soldaten des Aggressors Russland sterben somit direkt in der indirekten Konfrontation mit dem Westen. Schon deshalb ist dies kein Stellvertreterkrieg der Blöcke, wie wir es in Syrien und anderswo regelmäßig gesehen hatten. Wir erleben eine nur scheinbar archaische Konfrontation, oftmals der klassischen Kriegskunst gehorchend, sehr analog, mit Infanterie, Panzern, Mörsern, Granaten. Nur die Kavallerie fehlt.
Aus den genannten Gründen erscheint mir das einzigartig, macht Angst, traumatisiert, erfordert neues Denken. Je nach Geburtsjahr wird wohl anders empfunden: je nachdem, ob man den Zweiten Weltkrieg oder den Kalten Krieg noch bewusst erlebt hat. Auch nach der individuellen Herkunft: wer etwa in den Zerfall Jugoslawiens geraten war, hat eine andere Wahrnehmung.
Insgesamt ist das eine Katastrophe.
Ideengeschichten und Geschichtenideen fielen wie Puzzlesteine ins große Ganze. Dieses Werden empfand ich als pure Magie.
Die andere Unruh der „Wendezeit“ ist in jeder Hinsicht das Gegenteil jenes Krieges: digital, neu, nicht plötzlich. Wenn das an dieser Stelle auch banal, fast altbacken wirken mag: Ich spreche von der digitalen Disruption. Richtig: Sie ist kein spezifisch am Angelpunkt zwischen 2022 und 2023 zu verortendes Phänomen. Vielmehr begleitet sie uns mit immer neuen Ausprägungen ziemlich genau seit den von mir hier schon genannten 25 Jahren. Vor einigen Tagen erst stand ich mit meinem Kollegen Robert Treichler zusammen – auch er noch weit vom Pensionsalter entfernt. Wir erinnerten uns gemeinsam an unsere Anfänge im Journalismus, als wir mit mechanischer Schreibmaschine (ok, er mit einem „Textautomaten“) auf Papierformularen schrieben. Eine andere Erinnerung: Mein Kollege Christian Ortner in der „Wirtschaftswoche“ Mitte der 1990er-Jahre, der damals sehr zu meinem Erstaunen eine Titelgeschichte über „dieses Ding, dieses Internet“ vorschlug.
Was aber weit mehr auffällt als die technische Seite der Veränderung, ist die menschliche. Und damit komme ich auch zurück zum Journalismus: Die digitale Disruption hat einen ungekannten Bruch zwischen den Generationen erzeugt. Das Älterwerden, das Hineinwachsen in die seit Generationen bewährte Position der Altvorderen ist nicht mehr. Junge Journalist:innen übernehmen unsere Ethik und das Handwerk des Recherchierens und Verifizierens. Davon abgesehen ticken sie aber anders, können daher niemals unsere Lehrlinge sein. Das Internet, Streaming, Wikipedia, Social Media verändern das Denken und damit die Menschen. Da birgt mehr Chancen (im zivilisatorischen Prozess) als Gefahren (zum Beispiel für die Medienindustrie).
Ich will das als positiven Ausblick stehen lassen und wünsche Ihnen alles Gute jetzt und 2023.
[email protected]
Twitter: @chr_rai