Christian Rainer: Zu wenig Demokratie oder zu viel?
Ein wichtiger Gradmesser für die Schieflage der Welt wird alljährlich Mitte September in Potsdam angelegt. Da treffen sich beim M100 Sanssouci Colloquium Historiker, Politikwissenschafter, Politiker und vor allem Medienleute für einen Tag. Das ist zwar zu kurz für eine präzise Festlegung der Koordinaten, und der Tisch ist zu lang für eine erwachsene Auseinandersetzung zwischen den Anwesenden. Aber die gescheiten wie angriffigen wie eitlen Statements geraten stets zu kraftvollen Denkanstößen. Und am Ende ist noch immer ein Generalthema herausgewachsen, das die Veranstalter vorab so gar nicht hätten vorgeben können.
2016 waren es die Flüchtlingskrise und die Reflexion darüber, warum wir, die Teilnehmer, diese nicht richtig eingeordnet hatten, warum also die Politiker und die Journalisten verkannt hatten, wie die Menschen in Europa darüber denken würden: nämlich nur sehr kurz empathisch und dann ablehnend bis zur offenen demokratischen Revolte gegen die Regierenden.
2017 war dieses Thema verschwunden: Ich vermute, dieses Verschwinden hat damit zu tun, dass viele Medien sich öffentlich mit der eigenen Fehleinschätzung beschäftigt hatten und dass die Staaten lückenlos in Richtung restriktiver Ausländerpolitik eingeschwenkt sind. Siehe Österreich.
Das Thema, das am vergangenen Donnerstag bei diesem Colloquium als Leitmotiv herauszuhören war, hat mit Flüchtlingen nur punktuell zu tun: Was viele Publizisten aktuell beschäftigt, sind die Demokratie und die Sorge um ihren Fortbestand als Normalfall des modernen Staatswesens. Die Entwicklungen in Russland und in der Türkei stehen da im Fokus. Folgerichtig wurde die Moskauer Fernsehunternehmerin Natalja Sindejewa mit dem Media Award ausgezeichnet, weil sie ihren Sender unter Putin-Bedingungen als letzten unabhängigen TV-Kanal betreibt, und Can Dündar, der vor Erdoğan nach Deutschland geflüchtete Istanbuler Journalist, hielt die Eröffnungsrede. Aber auch Warschau und Budapest geben mehr und mehr Anlass zur Beunruhigung: Der Krebs hat in die Europäische Union gestreut, zumal in das mächtige und bevölkerungsreiche Polen, das eben noch als schnell in die Höhe schießender Musterknabe der Post-Sowjet-Ära gegolten hatte.
Zu erinnern ist natürlich auch an Nordafrika oder den Irak. Was die zuvor genannten aber anders macht: Hier beobachten wir demokratisch gewählte Parlamente und ernannte Regierungen, die ihre Legitimation missbrauchen und das jeweilige System in Richtung Autokratie drehen oder längst zur Diktatur gemacht haben. Failing Democracies, scheiternde Demokratien, zu wenig Demokratie.
Ein Zuviel an Demokratie führte auch zur Wahl von Donald Trump. Hier hat die Stimme des Volkes entschieden und nicht das Volk.
Dennoch: Dieses Zuwenig an Demokratie, die aus einem Volksentscheid entstandene Alleinherrschaft, ist nun wirklich kein neues Phänomen. Es gibt historische Beispiele sonder Zahl, die uns eine Warnung sein können. Allenfalls kann überraschen, dass vermeintlich unwiderruflich demokratische Länder dann doch wieder kippen.
Neu erscheint hingegen, dass ein Zuviel an Demokratie die Demokratie bedrohen kann. So entwickelte sich in Potsdam aus dem vorgegebenen Titel „Failing Democracies“ eine gegengerichtete Diskussion über dieses „viel“ und „zu viel“: weil nämlich die vergangenen eineinhalb Jahre genau davon geprägt waren – Brexit, Trump, die Flüchtlingsfrage, aufstrebende radikale Parteien wie in Frankreich und Deutschland, am Rande irgendwie sogar charismatische, aber nicht einschätzbare Persönlichkeiten wie Macron oder Sebastian Kurz.
Die Krise hier liegt in Schwächeanfällen der repräsentativen Demokratie wider den direkten Volksentscheid. Populistische Bewegungen, meist aus der Oppositionsrolle, verlangen regelmäßig nach Referenden. Regierungsparteien machen das eher selten; meist handelt es sich dann auch um einen Missbrauch der Idee, weil nicht eine moralische Entscheidung abverlangt wird, sondern die Beurteilung komplexer Sachverhalte; oft scheitern die Regierenden: Bruno Kreisky mit Zwentendorf, die SPÖ beziehungsweise Michael Häupl per Befragung am Berufsheer, das britische Parlament mit dem Brexit.
Ein Zuviel an Demokratie führte auch zur Wahl von Donald Trump. Hier hat die Stimme des Volkes entschieden und nicht das Volk. Es war eine Urabstimmung gegen die Demokratie, verkörpert durch Hillary Clinton, und für den Demokratie-Kritiker Trump. Und schließlich die Flüchtlingsfrage, wie sie in Deutschland, Schweden oder Österreich beantwortet wurde: Hier hat das Volk den von ihm gewählten Repräsentanten das Mandat aus den Händen genommen und einen anderen Kurs erzwungen.
Mir scheint: Wenn sich zu viel an Demokratie als Demokratie tarnt, kann das gefährlicher für die Demokratie sein als zu wenig Demokratie.
[email protected] Twitter: @chr_rai