Christian Rainer: Zurück in die Vergangenheit
Neulich abends in einem Restaurationsbetrieb im 4. Wiener Gemeindebezirk. Hier verkehrt grünes Publikum mit Einsprenkelung von NEOS-Wählern. Das Milieu ist weniger Bobo als im 7. oder 8. Bezirk, weniger kulturschick als in vergleichbaren Etablissements der Innenstadt. Nach zehn Wochen Einsiedelei hat sich Menschenscheu eingenistet. Die Distanzlosigkeit der vielen unbekannten Bekannten unter den Gästen erzeugt Irritation. Nach 23 Uhr, deutlich jenseits der Corona-Sperrstunde, vertreiben drei Polizisten und eine Polizistin die Gäste. Sie begegnen auch den Murrenden und den Knurrenden korrekt.
Die Irritation rührte nicht nur von einer mangelnden Gesellschaftsfähigkeit her, die viele von uns jetzt spüren - wir müssen ein vernünftiges Miteinander erst wieder erlernen. Meine Verwunderung entstand mehr noch aus dem Aufeinanderprallen zwischen einer Erwartungshaltung und der Realität: Der Corona-Schock hat nichts verändert. Menschen sitzen weiterhin dicht an dicht an mit Gläsern und Tellern beladenen Tischen. Der Lärmpegel sinkt kaum. Die Gespräche sind angesichts der schlimmsten Krise seit Jahrzehnten nicht bedächtiger worden, die Menschen nicht nachdenklicher. Die Worte fließen weiterhin schneller, als die Gedanken sie formen können. Es wird auf Teufel komm raus gelacht, geflucht, gepoltert, geraunzt. Die Reflexion geht in der tagesaktuellen Befindlichkeitsschau verloren.
Corona hat nichts geändert. Nachgerade verzweifelt suchen wir Journalistinnen und Journalisten Ansatzpunkte, um der Krise Potenzial für die Zukunft abzutrotzen.
Wir fragen bei Psychotherapeuten nach, ob der Schock Spuren hinterlassen hat. Dabei fahnden wir mehr nach dem Erleuchtungsmoment als nach Krankheitsbildern. Bis auf flaches Gerede von nachbarschaftlicher Solidarität und einem stärkeren Zusammenhalt der Generationen kommt da nichts. Politikexperten dürfen über das Mindset ihrer Klientel berichten - ob das Gemeinsame nun auf alle Zeiten vor dem Trennenden positioniert werde; ob langfristige Verantwortung die auf Tagesrhythmus getaktete Zuspruchsmaximierung ersetzen könne. Alles Fehlanzeige. In der Bundeshauptstadt tritt wieder Ibiza in den Vordergrund, in den Ländern dominieren Tiroler Machos und die Wir-sind-nicht-schuld-Täter.
"Unter dem Strich wird bis auf eine Wirtschaftskrise aber nichts bleiben. Corona wird uns schockiert haben, aber nicht traumatisiert."
Globale Politik: Trump, Johnson, Bolsonaro, Putin sind der hunderttausendfachen Tötung überführt, aus Dummheit, aus Fahrlässigkeit, mit Vorsatz. Doch sie regieren weiter, ohne einen Volksaufstand gewärtigen zu müssen. Die Wirtschaft ist als Phänomen nicht fassbar, zu unterschiedlich sind die Positionen: Arbeitnehmer, Unternehmer, Dienstleister, Industrie, Binnenwirtschaft, Export, Kapitalmärkte, Immobilien. Über allem schwebt der Staat, der das Blaue vom Himmel verspricht und zum Teil auch liefert. Eine Lektion hat niemand gelernt. Träumer freuen sich über ein paar Tropfen auf dem glühenden Stein: den Shutdown des Flugverkehrs zum Beispiel. Einzig die Wissenschaft erlebt eine Blüte: Wer hätte gedacht, dass Mathematiker als Retter von Millionen zu den wahren Helden einer Krise werden würden? Mediziner und Biochemiker liefern leidlich koordiniert lebensrettende Erkenntnisse und wohl auch irgendwann Therapie und Impfung. Man darf also immerhin hoffen, das Vertrauen in ein rationales Weltbild werde gegenüber Geistheilern und anderen Scharlatanen einige Meter machen. (Die Verschwörungstheoretiker arbeiten dem bereits entgegen.)
Unter dem Strich wird bis auf eine Wirtschaftskrise aber nichts bleiben. Corona wird uns schockiert haben, aber nicht traumatisiert. (Therapeuten dürfen hier einwenden, dass ein Trauma paralysiert und daher keine Wendung zum Besseren einleiten kann.) Vor allem wird Corona keinen Beitrag leisten, das größte Problem der Menschheit zu lösen, unendlich größer als Covid-19: Die Klimakatastrophe und der sie verursachende Verbrauch aller fossilen Energieträger werden mittelfristig nicht Hunderttausende Menschen töten, sondern Hunderte Millionen, langfristig Milliarden.
Auch wenn das Gegenteil behauptet wurde: Durch die Wirtschaftskrise wird viel weniger Geld für ein radikales Umrüsten der Weltwirtschaft vorhanden sein; wir verlieren Jahre, die ohnehin nicht mehr vorhanden waren. Und die Überlegung, dass wir von einem auf Wachstum basierenden System wegkommen müssen, wird eben beerdigt: Die Welt blickt mit Entsetzen auf die negativen Wachstumszahlen- und wird alles tun, um möglichst schnell wieder zu Wachstum zu finden und verlorenen Boden gutzumachen.
Auch wenn das tödlich ist.
Twitter: @chr_rai