Leitartikel

Die ÖVP und ihr Asyl-Schmäh

Eine Volkspartei, die sich ernst nimmt, muss das Migrationsthema frontal angehen. Mit der Debatte über Menschenrechte zeigt die ÖVP jedoch: Sie hat aus der Ära Kurz nichts gelernt.

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Es gibt Themen, in die selbst erfahrene Politiker hineinstolpern, weil sie scheinbar aus dem Nichts auftauchen und über Nacht alles dominieren – Corona oder der Ukraine-Krieg zum Beispiel. Bei den umstrittenen Maßnahmen gegen das Virus oder die Teuerung musste man der Regierung als mildernden Umstand anrechnen, dass es kaum Erfahrungswerte gab.

Andere Themen sind dagegen Dauerbrenner – wie Asyl und Migration. Spätestens die große Fluchtwelle 2015 mit ihren Menschenkolonnen rückte Österreich ins Zentrum einer anhaltend starken Migrationsbewegung von Süden nach Norden.  Aus einem Land mit ausgesuchten Gastarbeitern aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei ist ein zentraleuropäischer Großhafen für Asylwerber aus Afghanistan, Syrien bis Somalia geworden. Zusätzlich kommen Menschen aus der Ukraine in großer Zahl oder ziehen, wie viele Inder und Pakistani, weiter.

Politiker, die auf das Feld der Asylpolitik stolpern, als wäre das Thema neu, und keinen Plan haben, wo sie eigentlich hinwollen, können sich nicht auf mildernde Umstände berufen. Besonders wenn sie von der Volkspartei sind. Die ÖVP stellt seit dem Jahr 2000 mit einer kurzen Unterbrechung durch den blauen Herbert Kickl die Innenminister. Und die sind für Asyl und Migration zuständig.

Auftritt August Wöginger. Vergangenes Wochenende ließ der Klubobmann der ÖVP in einem „Standard“-Interview nebenbei die Bemerkung fallen, die bald 75 Jahre alte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehöre „überarbeitet“. Die Empörung ist groß, immerhin spielt die EMRK für das Nachkriegseuropa eine prägende Rolle. Erst pfiff Verfassungsministerin und Parteikollegin Karoline Edtstadler Wöginger zurück. Dann erteilte ihm Bundespräsident Alexander Van der Bellen aus der Hofburg einen Ordnungsruf.

Wöginger selbst äußerte sich nicht mehr zu Details. Stattdessen legten Landeshauptleute seine Worte aus. Es gehe gar nicht um die Konvention an sich. Das Problem sei die Auslegung der EMRK durch Richter, die Abschiebungen selbst nach Ungarn oder Italien verhindern – was im Fall Italiens gar nicht stimmt.

Harte Ansagen ohne Rücksicht auf genauere Fakten und rechtliche Spielräume, das erinnert frappant an die Regierungszeit von Sebastian Kurz. Diese war im Nachhinein nicht nur von den Chats überschattet, sondern auch von Schmähparaden in Sachen Zuwanderung. Kurz brachte Gesetzesvorhaben auf den Weg, die höchst populär, aber prompt als potenziell verfassungswidrig zu erkennen waren. Höchstgerichte kippten das Kopftuchverbot in der  Volksschule sowie die Kürzungen der Mindestsicherung für Flüchtlinge und der Familienbeihilfe für EU-Ausländer. Die groß inszenierte Schließung von Moscheevereinen scheiterte am Vereinsrecht. Dennoch reichte Kurz die Debatte über seine Law-and-Order-Politik, der FPÖ Hunderttausende Stimmen abspenstig zu machen. 

Einmal durchschaut, lassen sich solche Schmähparaden kaum wiederholen. Deswegen sollte es die ÖVP dieses Mal mit Ernsthaftigkeit probieren. Die Ressourcen hätte sie. Sie stellt den Innenminister, die Verfassungsministerin, die Integrationsministerin, den Außenminister. Kanzler Karl Nehammer selbst war Innenminister und Integrationssprecher der Partei. Wenn diese Runde nicht in der Lage ist, den genauen Spielraum auszuloten, der in der Asylgesetzgebung möglich ist, um Österreich zu entlasten, wer dann? Je näher die Debatte an Grundrechte rückt, desto fundierter sollte sie geführt werden. Stattdessen jongliert ein Klubobmann mit der Menschenrechtskonvention herum. Eine Zumutung.

Die Frage „Schaffen wir das?“ ist zurück. Eine Volkspartei, die sich ernst nimmt, muss darauf Antworten geben. Tut sie es nach der Wöginger-Methode, hört ihr bald niemand mehr zu.

In vielen Zeitungskommentaren wird der Fall Wöginger so dargestellt: Es gehe ihm gar nicht um reale Politik, sondern um Signale an rechte Wähler, um diese von der FPÖ zurückzuholen. Doch, so die Warnung der Kollegenschaft, wenn die ÖVP zu laut über das Ausländerthema rede, stärke sie am Ende nur die FPÖ. Dieses Argument hat mehrere Schwächen: Es unterstellt, dass man das Migrationsthema je nach strategischer Entscheidung auf- oder abdrehen kann. Dagegen spricht, dass Österreich heuer auf 120.000 Asylanträge zusteuert, 60.000 Ukrainer:innen noch nicht mitgerechnet. Zum Vergleich: Im historischen Flüchtlingsjahr 2015 stellten 88.000 Menschen einen Asylantrag. Dagegen spricht die Empörung über Ereignisse wie die Halloween-Krawalle in Linz, an denen auch Asylwerber und Flüchtlinge beteiligt waren. Dagegen sprechen ernüchternde Zahlen über den niedrigen Alphabetisierungsgrad von Flüchtlingen, die der Arbeitsmarkt doch so dringend bräuchte. Das gängige Argument unterstellt weiters, dass die FPÖ in Umfragen wieder unter 25 Prozent fällt, sobald die ÖVP den Ball bei der Zuwanderung flach hält. Allerdings: Die Realität hat wohl einen größeren Einfluss auf die freiheitlichen Umfragewerte als die Strategien der ÖVP.

Die Frage „Schaffen wir das?“ ist zurück. Eine Volkspartei, die sich ernst nimmt, muss darauf Antworten geben. Tut sie es nach der Wöginger-Methode, hört ihr bald niemand mehr zu.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.