Das giftige Erbe von Sebastian Kurz
Die Episode Sebastian Kurz endete unspektakulär. Viel war geraunt worden vor dem ÖVP-Parteitag: Kurz, Politpopstar außer Dienst, werde seinem Nachfolger als Parteiobmann die Show stehlen und Karl Nehammer überstrahlen. Nichts davon stimmte, nichts davon begab sich am Samstagnachmittag in Graz: Kurz hielt keine politische Rede, zog keine Bilanz, rechnete nicht ab. Er betrat die Bühne nur für wenige Minuten, plauderte kurz über seinen Sohn und seinen neuen Job, bedankte sich artig, zwei Jahrzehnte lang Politik gemacht haben zu dürfen. Und Abgang.
Die Bühne sollte bei diesem Samstag vor allem Karl Nehammer gehören, dem ÖVP-Obmann, der eine gebeutelte Partei übernimmt und seit Dezember als Krisen-Kanzler agiert. Krieg, Pandemie, Versorgungssicherheit, Pflege, Korruption und mehr streifte Nehammer in seiner einstündigen Rede, manchmal leidenschaftlich, manchmal mit extratrockenen Formulierungen wie „Subsidiarität ist die DNA der Volkspartei“ oder schwer zu entschlüsselnden Parolen wie „Weil wir wir sind, weil ihr ihr seid“. Die 524 Delegierten dankten es Nehammer und wählten ihn mit dem stolzen Ergebnis von 100 Prozent zum neuen ÖVP-Obmann.
Vorgänger Sebastian Kurz hatte im August 2021 exakt 99,4 Prozent bekommen. Wenige Wochen später war er weg, hinweggefegt von Korruptionsermittlungen.
Seither kiefelt die ÖVP an seinem giftigen Erbe. Kurz hat einen Scherbenhaufen hinterlassen: Das Vertrauen im Keller, weil vom glanzvollen Versprechen einer neuen Politik nur derbe Chats und uralter Postenschacher blieben. Eine devastierte Partei, von Wien bis Bregenz von Korruptionsermittlungen erschüttert. Und einen populistischen Politikstil, stets konzentriert auf bombastische Show und wohlinszenierte Ansagen – inhaltlicher aber mit vielen Leerstellen und wenig Substanz.
Das rächt sich nun. Denn die drei derzeit dominanten innenpolitischen Themen lauten: 1. Teuerung. 2. Teuerung. 3. Teuerung. Die Inflation klettert auf immer neue Höhen, Energie- und Lebensmittelpreise explodieren, Krieg und Energiekrise drohen das Wirtschaftswachstum bis hin zur Rezession abzuwürgen. Das wäre eigentlich eine Gemengelage, in der eine Wirtschaftspartei wie die ÖVP perfekt ihre Kompetenz ausspielen könnte. Betonung auf: könnte. Unter Kurz mutierte die ÖVP zur Wirtschaftspartei ohne Wirtschaftsthemen. Als inhaltliches Ziel-1-Gebiet galten Sicherheit, Migration und Asyl – Wirtschaft rangierte unter „ferner liefen“. Das erschien nicht nur eher schlicht, das wirkte manchmal sogar kontraproduktiv: So wurden etwa mit Gedöns gut integrierte Lehrlinge abgeschoben - und jetzt sucht die Wirtschaft händeringend Fachkräfte.
Diese Prioritätensetzung lässt die ÖVP inhaltlich taumeln. Die harsche Law-and-Border-Politik ist Geschichte, ukrainische Flüchtlinge sind willkommen – Antworten auf Wirtschaftsthemen hat die ÖVP aber zu wenige zu bieten. Aus dieser Not entspringen undurchdachte Vorschläge wie jener, Gewinne von Energieunternehmen abzuschöpfen: Eine Nehammer-Idee, die in der ÖVP für blankes Entsetzen sorgte.
Ein Vorschlag, typisch für Nehammers bisher erratische Kanzlerschaft: Eine ideologische Richtung oder gar ein strategischer Plan waren nicht einmal in Konturen erkennbar. Ein inhaltliches Konzept gegen die Teuerung auch nicht. Eine glaubwürdige Abnabelung vom Korruptions-Erbe von Kurz schon gar nicht - dabei ist Nehammer Obmann einer Partei, gegen die die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt. Alle drei Bausteine wird Nehammer brauchen, sonst ist dem Sinkflug der ÖVP keine Grenze gesetzt.
Der Rücktritt von Kurz-Vertrauter Elli Köstinger hat Nehammer überrumpelt, die Umbildung der Regierung bedeutet dennoch seine zweite Chance. Die Kurz-Fantruppe ist in Politpension, mit dem Ökonomen Martin Kocher übernimmt ein Experte das Wirtschaftsministerium, auch die anderen Neuen bringen Fachwissen mit.
Entscheidender als die Personen ist dennoch das inhaltliche Vakuum. Der Parteitag hat Nehammer mit dem 100-Prozent-Ergebnis gestärkt, die ÖVP sich geschlossenen hinter ihren neuen Obmann gestellt. Am Parteitag hat Nehammer Themen angerissen, nach dem Parteitag muss er liefern, auch als Regierungschef. Bisher setzte er nur kleine Duftmarken: Weniger Marketing-Popanz und weniger Freund-Feind-Schema als Kurz. Das ist ein Anfang, aber das wird nicht reichen.
Viel Zeit hat Nehammer nicht. Eine dritte Chance wird er nicht bekommen.