Der Gaza-Krieg vor Gericht
„Antrag auf ein gerichtliches Verfahren“ lautet der unscheinbare Titel des Schriftsatzes, der 84 Seiten umfasst und mit 28.12.2023 datiert im Namen der Republik Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingebracht wurde. Es ist ein historisches Dokument. Darin wird nicht weniger behauptet, als dass sich der Staat Israel Verbrechen schuldig gemacht habe, die gegen das „Übereinkommen über die Verhütung und die Bestrafung des Völkermordes“ – die Genozid-Konvention aus dem Jahr 1948 – verstoßen. Zum ersten Mal steht Israel vor einem internationalen Gericht.
Genozid ist im internationalen Recht definiert als das Setzen von Handlungen, deren Absicht die Zerstörung einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe – oder eines Teils davon – ist. Auch die Anstiftung dazu ist ein Delikt.
Anschuldigungen gegen Israel, das Palästinensergebiete besetzt hält, werden seit Langem immer wieder erhoben, sehr oft leichtfertig und aus niederen Motiven. Eine Klage vor dem IGH ist hingegen etwas Ernsthaftes. Israels Staatspräsident Isaac Herzog bezeichnet sie empört als „scheußlich und absurd“, und auch US-Außenminister Antony Blinken lehnt sie ab. Unter den Staaten, die der Klage ihre Unterstützung ausgesprochen haben, sind Jordanien, Türkei, Pakistan, Malaysia, Namibia, Bolivien und die Organisation Islamischer Länder.
Müsste man seine Haltung auf Basis dieser Unterstützerlisten definieren, würde man sich wohl auf die Seite Israels und der USA schlagen. Doch das ist der falsche Gedankengang. Es geht nicht darum, ein vorschnelles Urteil darüber zu fällen, ob Israel in Gaza Verbrechen begangen hat, sondern um die Frage, ob es sinnvoll ist, dass der Internationale Gerichtshof, das höchste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, diesen Verdacht überprüft.
Genau das halte ich für richtig, mehr noch: für notwendig.
Die internationale Justiz muss auch Klagen gegen westliche Staaten verhandeln.
Die israelische Kriegsführung und die hohe Zahl an zivilen Opfern in Gaza haben in den vergangenen drei Monaten weltweit Entsetzen ausgelöst. Nicht des Antisemitismus verdächtige Beobachter wie die „New York Times“ haben bedenkliche Aktivitäten der Israelischen Streitkräfte (IDF) dokumentiert, etwa den Abwurf von mindestens 208 der größten Bomben, die im Arsenal der IDF vorhanden sind. Videobilder zeigen, dass diese Bomben auch im Süden des Gazastreifens eingesetzt wurden, wohin die palästinensische Bevölkerung auf Aufforderung Israels geflüchtet war.
Israels Regierung argumentiert gegenüber jeglicher Kritik am Vorgehen der IDF, dass dieses angesichts der Perfidie des Gegners alternativlos sei. Schließlich operiert die Terrororganisation Hamas absichtlich inmitten von Zivilisten. Doch die Klage Südafrikas erhebt Zweifel an der israelischen Rechtfertigung und behauptet, dass auch andere Motive im Spiel seien. Insbesondere sei es israelische Strategie, auch die Zivilbevölkerung zu treffen. Belegt wird dies mit einer Reihe von Zitaten hochrangiger israelischer Amtsträger, zum Beispiel von Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der in einer Fernsehrede sagte: „Um es klarzumachen: Wenn wir sagen, die Hamas soll zerstört werden, dann meinen wir auch diejenigen, die sie feiern, unterstützen und diejenigen, die (aus Freude, Anm.) Süßigkeiten verteilen – sie sind alle Terroristen, und sie sollten auch zerstört werden.“ Israelische Soldaten wurden laut der Klageschrift dabei gefilmt, wie sie sangen: „Wir kennen unser Motto: Es gibt keine unbeteiligten Zivilisten.“
Israel habe, so ein weiterer Vorwurf, auch die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Lebensmitteln und medizinischer Hilfe drastisch reduziert, um die Lebensumstände in Gaza unerträglich zu machen. Israel Katz, Minister für Energie und Infrastruktur (mittlerweile Außenminister), twitterte laut Klageschrift: „Humanitäre Hilfe für Gaza? Kein elektrischer Schalter wird eingeschaltet, kein Wasserhydrant geöffnet und kein Tankwagen wird (nach Gaza, Anm.) reinfahren, bis die israelischen Geiseln zu Hause sind.“ Dazu kommen Aussagen von mehreren Ministern, die eine „freiwillige Absiedlung“ der palästinensischen Bevölkerung aus Gaza forderten. Planten Teile der Regierung, das Gebiet für die Palästinenser unbewohnbar zu machen?
Solche Verdachtsmomente dürfen nicht unaufgeklärt bleiben. Alles spricht dafür, sie von dem 15-köpfigen Richterkollegium des IGH beurteilen zu lassen, dem auch ein von Israel nominierter Richter angehören wird. Sonst würde zu Recht der Vorwurf erhoben, dass die internationale Justiz nie tätig wird, wenn es um einen westlichen Staat geht, sondern nur im Fall von Ländern wie Russland oder Myanmar.
Ralph Janik, Völkerrechtler an der Sigmund Freud Privatuniversität, sagt gegenüber profil, die Justiz werde in diesem Verfahren ihre positive Wirkung entfalten: „Es ist ein großer Schritt, wenn statt politischen Schlammschlachten rechtliche Argumente ausgetauscht werden. Der Internationale Gerichtshof wurde als Forum geschaffen, um auf zivilisierte Weise Streitigkeiten auszutragen – auch in Fällen, in denen sich ein Staat wie Südafrika, das nicht unmittelbar betroffen ist, völkerrechtlich für ein anderes Volk einsetzt.“
Ein Gerichtsverfahren zu begrüßen, ist etwas anderes, als eine Verurteilung zu verlangen.