Veit Dengler
Gastkommentar

Veit Dengler: Der lange Brief zum Kurz'schen Abschied

Der Medienmanager Veit Dengler über den Rücktritt und den neuen Job von Sebastian Kurz.

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Regierungschefs können es sich nicht aussuchen, welche Ereignisse ihre Amtszeit prägen. Ihre historische Bedeutung ergibt sich daraus, wie sie diese meistern. Die Ära Kurz ist im Rückblick von der Covid-Krise geprägt, die der Ex-Kanzler eher schlecht als recht gemanagt hat. Recht, weil die Zahl der Todesfälle gemessen an der Bevölkerungszahl im Vergleich zu anderen Ländern durchschnittlich ist. Schlecht, weil der Aufwand enorm war. Lockdowns und Schulschließungen haben unabsehbare langfristige Folgen.

Kurz musste auch unfaire Kritik einstecken, wie sich am Beispiel der Pandemie deutlichmachen lässt. Ein neuartiges Virus und eine Pandemie sind im Wortsinn unberechenbar. Das Wesen des wissenschaftlichen Diskurses ist es, dass Tausende forschen, möglichst rasch publizieren, oft auf recht dünner Datenlage, und widersprüchliche Ergebnisse liefern. Ob eine Studie stichhaltig und aussagekräftig ist, lässt sich nur im qualifizierten Kollektiv und mit der Zeit beurteilen, nachdem versucht wurde, die möglichen Gegenargumente durchzuspielen, und es eine Reihe von widersprechenden oder unterstützenden Studien gibt. Dieser Diskurs, in dem die Wissenschaften herausfinden, was Sache ist, ist in neuen Medien ungefiltert allgemein verfügbar. Sowohl Journalistinnen guten Willens als auch die, nett gesagt, Esoteriker picken sich einzelne Studien heraus und teilen sie mit ihren (sozialen) Medien-Megafonen. Den resultierenden Unsinn und den "Druck der Straße" zu kanalisieren, ist schwer.

Bundeskanzler zu sein, ist aber auch ohne Pandemie schwierig. Regierungschefs können eigene Agenden setzen. Das hat Kurz versäumt und ist sein eigentliches Versagen. Er ist wie Werner Faymann: Beide hatten sich mit Geschick und Ehrgeiz ihren Weg an die Spitze gebahnt. Beide wussten nicht, warum, was sie als Kanzler erreichen wollten, außer Kanzler zu bleiben. Weder Kurz noch Faymann hatten Antworten für die großen Themen unserer Zeit.

Von Kurz hatten wir uns aber viel mehr versprochen als von Faymann. Jeder, der eine große Organisation führt, von der Caritas bis zum FC Chelsea, von der Bahn bis zur Bundesregierung, muss über die folgenden sechs Grundfähigkeiten verfügen.

1. Strategie

Kurz hätte unsere Sozialwerke - allen voran die nicht nachhaltigen Pensions- und Gesundheitssysteme - auf solidere Füße stellen können, damit sie nicht weiter auf Kosten der Jüngeren Schulden aufstapeln. Er hätte Experten zusammenbringen können, um zu überlegen, wie Technologie - allen voran künstliche Intelligenz - jeden Lebensbereich verändert und wie wir als Land darauf reagieren müssen. Er hätte vordenken lassen können, welche Auswirkungen diese Änderungen auf das Arbeitsleben und damit die Stadt- und Raumplanung sowie die Infrastruktur haben. Wir brauchen auch eine neue europäische Außen- und Sicherheitspolitik; das traditionelle Wegducken ist in der EU-Solidargemeinschaft mit aggressiven Nachbarn wie Russland zunehmend unredlich. Vor allem aber zehrt das österreichische Bildungssystem von der Substanz und wird den Aufgaben nicht mehr gerecht. Dass ein Viertel unserer Kinder durchgeschleust wird, ohne am Ende sinnerfassend lesen zu können, ist ein Notsignal, Nichtreformieren eine fast schon kriminelle Unterlassung.

Das alles ist ein Bohren sehr dicker Bretter; leider hat Kurz in keinem dieser Bereiche eine Handschrift hinterlassen. Natürlich kann ein Bundeskanzler dies nicht allein vorantreiben, daher braucht es ein starkes Team.


2. Team

Gerade ein kleines Land wie Österreich hat nur eine Handvoll an Talenten in jeder Generation, die wirklich befähigt sind, Ministerien und wichtige staatliche Einrichtungen zu führen. Viele von diesen Talenten sind zögerlich, in die Politik zu gehen, weil sie um den Verlust ihrer Integrität fürchten. Kurz hat eine Reihe von Expertengremien, z. B. einen Thinktank im Kanzleramt, geschaffen. Diese Gremien wie auch die von ihm ausgewählten Minister hatten nichts zu sagen. Das Sagen hatte ein ganz enger Kreis, der aufgrund bedingungsloser Loyalität und nicht nach Kompetenz ausgesucht war. Dieser Kreis dominierte; Kurz schaffte in der Führung nicht den Wechsel von diesem engen Kreis zu einer Regierung der besten Köpfe. Wichtig war die Frage, was der Kanzler und seine Getreuen dachten und hören wollten, und nicht eine fachlich versierte und sachliche Expertise.

Kurz ging aber auch sonst über das hinaus, was bisher üblich war und ÖVP und SPÖ immer schon taten: die Machtbalance ihrer Parteien abbilden, statt das beste Talent zu suchen. Kurz hat auf diese Machtbalance keinen großen Wert gelegt, trotzdem holte er sich nicht die fähigsten, sondern die loyalsten Köpfe. Dabei ging auch der Vorteil der innerparteilichen Kontrolle verloren. Die formale Besetzung von bestimmten Funktionen nach der herkömmlichen Parteilogik hat daran nichts geändert, weil eine inhaltliche Mitsprache nicht ermöglicht wurde. Da die FPÖ und die Grünen als Regierungspartner aus noch viel dünneren Personalreserven schöpfen, hatten wir die letzten vier Jahre die wohl schwächsten Regierungsteams seit Jahrzehnten, auch wenn die eine oder andere Person eine Ausnahme bildet.

3. Kommunikation

ist unzweifelhaft eine Stärke von Kurz. Er hat eine für österreichische Verhältnisse-wir haben geringe Ansprüche!-ungewöhnliche Fähigkeit (vermeintlich) zuzuhören. Auch wenn einiges einstudiert wirkt, ist er rhetorisch gewandt. Ihm fehlte jedoch die Urteilskraft, wann man was wie sagen soll.

Unser Wahlvolk ist Aktivismus gewohnt (ob es ihn tatsächlich auch will, bleibt dahingestellt, es empfiehlt sich ein Blick auf die eher unaufgeregte Schweiz). Die Kurz'sche Kommunikation hat laufend neue Projekte angekündigt. Was ist davon übrig geblieben? Welche davon wurden umgesetzt? Es gibt in der Werbung den Satz: Good advertising kills a bad product faster. Marketing ohne Inhalt kann auf Dauer nicht funktionieren.

Auch während der Pandemie verging kaum ein Tag ohne Pressekonferenz mit dem "virologischen Quartett" Kurz, Vizekanzler Werner Kogler und den damaligen Ministern Rudi Anschober und Karl Nehammer-alles natürlich keine Virologen. So oft traten sie auf, dass "Heute"-Chefredakteur Christian Nusser neckisch schrieb, dass wir alle "offenbar nicht genug vom Krisen-Kanzler kriegen". Die permanente Präsenz des Kanzlers hat seine Schwächen entblößt. Entwicklungen, vor allem unberechenbare wie jene der Natur, halten sich nicht an Planungen der Kommunikationsberater. Man kann in einer Krise zu wenig kommunizieren oder zu viel. Oder das Falsche versprechen ("Die Pandemie ist für Geimpfte vorbei") - und muss dann zurückrudern und relativieren. So verlor Kurz Stück für Stück seine Glaubwürdigkeit, ohne die man viel reden, aber nicht effektiv führen kann.

4. Management

Es gibt Manager, die Karriere machen, ohne dass sie Strategen, Teambauer oder Kommunikatoren vor dem Herrn sind. Sie können aber auf Sicht fahren; reagieren auf das, was passiert; das Tagesgeschäft fleißig abarbeiten. Auch diese Merkel'schen Tugenden waren Kurz fremd. Schon in den ersten Jahren waren sie kaum sichtbar, die Pandemie hat ihn dann endgültig entblößt.

In einer Krise braucht es das, was beim Militär "situational awareness" heißt. Das war wohl das größte Problem unserer Pandemiebekämpfung. Beim leidigen Thema Daten etwa gibt es bis heute keine einheitliche Erhebung der Infektionen, der Spitalsauslastung, der Verteilung der Alten-und Pflegeheimbewohner und Dutzender anderer wichtiger Maßzahlen. Ohne eine umfassende Lagebeurteilung tappt man im Dunkeln und kann nicht einmal reaktiv gut managen.

Es braucht auch klare Spielregeln. Stattdessen gab es einen Pallawatsch: nicht ein Krisenstab, sondern gleich ein Dutzend; statt der Anwendung der an sich klaren Verfassung ein Durcheinander von Landeshauptleuten und Kammern, deren Vorlieben bedient wurden. Dazu passt, dass Kurz nicht mit dem arbeitete, was da war und funktionierte. Während einer Krise soll man nur im Notfall neue Organisationen erfinden. Statt einer COFAG hätte die Regierung besser einfach die Finanzämter verwendet. Anstatt die Kammer ein absurdes "Kaufhaus Österreich" basteln zu lassen und dieses dann still zu begraben, lieber die Privatwirtschaft eingespannt.

5. Rat

ist einfach einzuholen, wenn man ihn will. Gute Kanzler wissen, was sie nicht gut können. Sie sind mit sich selbst hart im Urteil, versuchen, ihre Mängel zu verstehen, suchen Korrektive. Boris Johnson entdeckt gerade, wie ein Parlament eine Regierung zur Rechenschaft zieht. Leider sehen das die meisten unserer Nationalratsabgeordneten nicht als ihre Aufgabe.

Kurz bezog oft erst dann andere ein, wenn sein enger Zirkel nicht mehr weiterwusste und Legitimation von außen erforderlich war, weil im Gegensatz zum Beginn der Pandemie das Vertrauen in die Entscheidungen der Regierung geschwunden war. In dieser Situation wollte man nicht mehr allein verantwortlich sein.

6. Ethik

Ist Kurz moralisch geeignet, das Land anzuführen? Mit heutigem Wissensstand ist die Antwort ethisch gesehen: nein. Rechtlich gesehen: werden wir sehen. Das kann sich mit dem Alter ändern. Kurz kann lernen, dass es nicht nur darauf ankommt, dass man gewinnt, sondern auch, wie man gewinnt und wofür. Dafür ist Silicon Valley mit seiner unreflektierten Techno-Gläubigkeit allerdings kein gutes Pflaster und Peter Thiel mit seiner offen antidemokratischen Attitüde kein guter Lehrmeister.

Kurz hat bewiesen, dass er Wahlen gewinnen kann. Für die Kanzlerschaft war Kurz 2017 aber viel zu unerfahren. Bei Thiel wird er als "Global Strategist" eine rasche Lernkurve haben oder, wenn weniger erfolgreich, zumindest als Türöffner seine Kontakte zur Verfügung stellen. Auf jeden Fall ist es mit seinen 35 Jahren zu früh, das Talent und Schaffen von Sebastian Kurz zu beurteilen.

Uns hat Kurz hoffentlich etwas gelehrt: Gutaussehend, jung und gescheit sagt noch nichts über einen Politiker aus. Was zählt, ist kluge, effektive und ethische Politik. Man kann besser und schlechter regieren, und das Land wird dann wohlhabender, gesünder und zukunftsfähiger - oder eben nicht.

Veit Dengler war bis Ende 2021 Mitglied der Konzernleitung der deutschen Bauer Media Group und zuvor Chief Executive Officer der NZZ-Mediengruppe. 2012 gründete Dengler gemeinsam mit Matthias Strolz NEOS.