Leitartikel

Der Trump-Schock – ein Weckruf für Europa

Das transatlantische Bündnis bröckelt. Die EU muss sich rasch und dramatisch ändern.

Drucken

Schriftgröße

So gemächlich wie bisher wird es nicht weitergehen. Am 9. Juni fanden Europawahlen statt, erst diese Woche traten Magnus Brunner und seine Kollegen zu Hearings im EU-Parlament an. Selbst wenn kein Kommissar durchfällt, nimmt die neue EU-Kommission Anfang Dezember ihre Arbeit auf – und hat damit ein halbes Jahr seit der Wahl verstreichen lassen. Derartiges Zelebrieren der Langsamkeit mag für Routinezeiten taugen. Für Krisen und Herausforderungen kommt Europa damit verlässlich zu spät.

Nicht ohne Grund geriet die EU bei Wirtschaftswachstum oder Innovation ins Hintertreffen. Seit der Alptraum Wirklichkeit wurde und Donald Trump bei den Wahlen triumphierte, ist Schluss mit gemütlicher Komfortzone. Europa muss sich ändern. Und zwar rasch und dramatisch.

Trump ist ein notorischer Lügner und Autokratenversteher mit Hang zu Verschwörungsunsinn und Schimpftiraden. Sein Comeback bedeutet eine dramatische Zäsur – für die USA, für die EU, für die Welt. An den Schalthebeln der global potentesten Wirtschafts- und Militärmacht sitzt ein Unberechenbarer, der angekündigt hat, „Diktator“ sein zu wollen. Und den frühere Vertraute unverhohlen als „Faschist“ bezeichnen. Mit ihm zerbröckelt das transatlantische Bündnis, denn Trump hat mehr als deutlich gemacht, dass er Europas liberale Demokratien nicht als Bündnispartner betrachtet, sondern als Gegner.

Wirtschaftlich droht Trump mit knallhartem Protektionismus, Zölle sind sein „Lieblingswort im Wörterbuch“. Hohe Strafzölle vom wichtigsten Handelspartner wären ein empfindlicher Schlag für die ökonomisch schwächelnde EU. Eskalierende Handelskriege drohen, auch mit China, das aggressiv auf europäische Märkte drängt.

Trump ist kein Freund der NATO, mit ihm salutieren die USA als Weltpolizist ab. Ohne die 100.000 stationierten US-Soldaten und die amerikanischen Atomwaffen wäre Europa nicht sicher.

Noch härter werden die verteidigungspolitischen Auseinandersetzungen: Trump lobte Putins Invasion als „genial“, die Ukraine kann unter seiner Präsidentschaft nicht auf milliardenschwere Waffenlieferungen zählen. Will Europa verhindern, dass die Ukraine an Russland fällt, muss es diese riesige Lücke kompensieren – finanziell schwer zu stemmen, erfordert zudem komplexe Überzeugungsarbeit bei der eigenen kriegsmüden Bevölkerung. Das kann die Angriffslust Putins weiter anstacheln.

Noch mehr Gruselnachrichten gefällig? Trump ist kein Freund der NATO, mit ihm salutieren die USA als Weltpolizist ab. Ohne die 100.000 stationierten US-Soldaten und die amerikanischen Atomwaffen wäre Europa nicht sicher. Laut EU-internen Kalkulationen bräuchte Europa, um sich selbst verteidigen zu können, 500 Milliarden Euro an Militärinvestitionen.

Kurz: Europa müsste sich neu erfinden, um selbstständig seine Interessen zu schützen und verteidigungspolitisch auf eigenen Beinen zu stehen. Optimisten in Brüssel vertreten die Theorie, dass die Bedrohung aus den USA den Flohzirkus EU zusammenschweißt und Europa lernt, gegenüber Washington geeint aufzutreten. Ausgeschlossen ist das gemeinsame Wachsen nicht, die Voraussetzungen dafür sind suboptimal: Die beiden größten EU-Mitgliedstaaten fallen als stabile Anker aus und wanken deutlich. In Deutschland ist die Ampelkoalition zerbrochen, in Frankreich kämpft die Regierung mit Dauerproblemen, bedrängt von der Europafeindin Marine Le Pen. All das stärkt die Fliehkräfte und die rechten Putin-Kumpel in der Slowakei und Ungarn, die lustvoll die EU in Migrations- oder Rechtsfragen auflaufen lassen. Viktor Orbán, der Ungarn zur illiberalen Demokratie umgebaut hat, gehört zu den Lieblingspolitikern von Donald Trump. Wenn der Trumpismus ein Vorbild in Europa hat, dann ist es der Orbánismus – wie im Mai auf einer rechten Vernetzungskonferenz in Budapest zu besichtigen war.

Leicht zu gewinnen wird das Match für die Demokraten in der EU nicht sein. Die letzten vier Jahre unter Joe Biden wiegten sie sich in Sicherheit, dass der Ernstfall schon nicht eintreten werde, und vertrödelten Zeit, anstatt Europa vor Trump zu wappnen. Jetzt hilft nur mehr Schocktherapie.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin