Leitartikel

Des Kanzlers zu dicke Haut

Karl Nehammers Zunge saß zu locker, er profilierte sich auf Kosten der Ärmsten. Er sollte sich die Watschen dafür mit Würde abholen – und daran wachsen.

Drucken

Schriftgröße

Wissen Sie eigentlich, was die billigste warme Mahlzeit in Österreich ist? Laut Kanzler Karl Nehammer ist das ein Hamburger von McDonald’s. Der kostet 1,40 Euro, mit Pommes „nur“ 3,50 Euro, trompetete er bei einer ÖVP-Parteisitzung in Hallein. Der Grund seiner Entrüstung: „Linke“ würden behaupten, dass Kinder in Österreich keine warme Mahlzeit bekommen.

Zustimmendes Gemurre an den reich gedeckten Tischen. Es ist davon auszugehen, dass auf Steuerzahlerkosten geladen wurde. Ein Nehammer-Faktencheck hat ergeben: Der Hamburger ist teurer, aber seine Aussagen disqualifizieren sich auch sonst. Dass man sich als oberster Regierungsvertreter ausgerechnet die Schwächsten und Ärmsten in diesem Land als Gegner am politischen Spielfeld aussucht, ist wirklich kein Zeichen von Größe. Es hat dazu auch wenig mit der christlich-sozialen DNA zu tun, die der ÖVP seit Gründungstagen zugrunde liegt.

Um in diesem Minenfeld der Bösartigkeit überleben zu können, muss man sich eine Schweinehaut wachsen lassen. Wird sie zu dick, spürt man nichts mehr.

Die Kanzler-Rede ging in verheerender Tonalität weiter: Frauen, die kein Geld haben, sollten mehr arbeiten gehen. Der Kanzler schwafelte, dass es ja wie in der DDR sei, wenn der Staat kontrollieren wolle, was Kinder essen. Weiters kam er zu dem Schluss, man lebe in Österreich in einem der besten Länder der Welt. Das ständige Gejammere sei auch keine Lösung. Das ist der einzige Teil der Rede, bei dem man Nehammer vollumfänglich zustimmen kann. Hierzulande ist ein gewisses Dauergeraunze zum Grundgeräuschpegel geworden und ja, das ist ein Problem. Es wäre dann aber auch konsequent, wenn die ÖVP mit gutem Vorbild voranginge und selbst einmal mit dem angeprangerten Gesudere aufhören würde.

Was auf die Nehammer-Rede folgte, war ein Klassiker der heimischen Politik-Reflexe: SPÖ-Chef Andreas Babler roch eine mögliche Profilierungsmöglichkeit und berief eilig eine Pressekonferenz ein. Die FPÖ tat, was sie momentan gefühlt drei Mal pro Woche tut: in einer Sprache voller Superlative einen Rücktritt zu fordern. Die NEOS waren wieder einmal entsetzt, die Grünen wussten nicht, wie mit dem Fauxpas des Koalitionspartners umgehen, und duckten sich irgendwie vorbei. Das offizielle Österreich war völlig außer sich, und das hat vor allem auch mit der Nationalratswahl 2024 zu tun. Bis dahin ist es zwar offiziell noch fast ein ganzes Jahr hin, aber die heimische Politik benimmt sich, als ob es nächsten Sonntag so weit wäre. Es lässt erahnen, wie die nächsten zwölf Monate werden: anstrengend für Politik wie Bevölkerung, die sich auf hysterische Debatten einstellen kann.

Aber abgesehen von der jetzt schon nervtötenden Tonalität ist rein sachliche Kritik an Nehammers Aussagen angebracht. Vor allem, weil die ÖVP für einige dieser angeprangerten Zustände politisch seit Jahrzehnten mitverantwortlich ist. Frauen sollen mehr Vollzeit arbeiten gehen? Wie wäre es, wenn endlich die Kindergartenbetreuung ausgebaut wird oder der Pflegenotstand gelöst wird? Dann stünden Frauen dem Arbeitsmarkt auch mehr zur Verfügung. Der ÖVP geht das Thema Kinderarmut auf die Nerven? Dann soll sie endlich in die Gänge kommen, die Rügen der EU ernst nehmen und wirklich etwas dagegen tun.

Nehammer hätte die verdiente Kritik mit Würde nehmen können. Man hätte sich für eine zu lockere Zunge entschuldigen können. Stattdessen versuchte er mit einem Video einen Tag später zu retten, was noch zu retten war – und bekräftigte seine Aussagen: Leistung müsse sich lohnen. Eltern seien für das Wohlergehen ihrer Kinder verantwortlich. Auch damit hat er recht, und es wird wohl keine politische Partei geben, die ihm da inhaltlich widersprechen würde. Aber es macht eben der Ton die Musik.

Wer Karl Nehammer einmal persönlich getroffen hat, weiß: Er ist kein Herzloser und im Zwiegespräch ein Streitbarer. Ihm passiert aber punktuell zunehmend, was auch viele seiner langjährigen Branchenkollegen als Zyniker enden hat lassen. Um in diesem Minenfeld der Bösartigkeit überleben zu können, muss man sich eine Schweinehaut wachsen lassen. Wird sie zu dick, spürt man aber nichts mehr. Dann trifft man immer häufiger die angemessene Tonalität nicht mehr. Dann hinken die Vergleiche – und übrig bleibt ein Gesamtbild, das man nicht haben will: das eines abgehobenen, realitätsfernen Politikers, der von oben zynisch über die da unten richtet.

Wer sich in der Politik den Schlüsselerfolgsfaktor Empathie bewahren will, muss mutig sein, sich seine Watschen und Verletzungen abholen, Fehler eingestehen. Mit Würde und Demut. Österreich hat an der Staatsspitze Menschen verdient, die diese Größe besitzen.

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.