Kommentar

Darf’s ein Wiener Kompromiss sein, liebes Berlin?

Bekommt Deutschland, bekommt Europa eine starke pro-europäische Regierung? Es sieht danach aus.

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Ging es bei dieser deutschen Bundestagswahl um Leben und Tod? „Yes“ postete der Multimilliardär und Pseudo-US-Vizepräsident Elon Musk wenige Stunden vor Schluss der Wahllokale auf seiner Kurznachrichtenplattform X. Die Message, die er dabei weiterverlinkte, lautete: „Deutschland. Geht zu den Urnen und wählt AfD. Euer Leben hängt davon ab.“ Propaganda für die AfD zu machen, ist seit dem Amtsantritt von Donald Trump Regierungspolitik. Auch der tatsächliche Vizepräsident J. D. Vance hatte vor kurzem in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz bereits für die AfD Partei ergriffen.

Aus der Sicht von Leuten wie Musk und Vance hätten die Deutschen für das Leben gestimmt, wenn sie die AfD zur Regierungspartei gemacht hätten. Die AfD hat mit rund 19,9 Prozent (laut ARD-Prognose von 18 Uhr) das beste Ergebnis ihrer jungen Geschichte erzielt und liegt in jedem Fall vor der SPD (16,2 Prozent) auf Platz Zwei. Regieren wird sie nach allem, was man vorhersehen kann, dennoch nicht. Niemand will mit der Partei, die vom Verfassungsschutz als „in Teilen gesichert rechtsextrem“ bezeichnet wird, eine Koalition bilden, insbesondere nicht der Kandidat der Wahlsieger CDU und CSU (zusammen 28,9 Prozent), Friedrich Merz.

Warum wollen Musk und Vance in Deutschland unbedingt die AfD in der Regierung sehen? Das ist kein großes Geheimnis. Sie sehen in der Europäischen Union eine Gegnerin der US-Regierung, und die AfD will die EU zerstören. Unter Trumps Vorgänger Joe Biden war das noch anders. Da engagierten sie sich das Weiße Haus und Brüssel gemeinsam für die Unterstützung der Ukraine und für den Klimaschutz. Trump jedoch will die Ukraine fallen lassen, er nähert sich Putin an, und er drängt die Europäer aus dem Spiel. Klimaschutz ist ihm ein Gräuel, und der von ihm betriebene Kulturkampf für dubiosen „Patriotismus“ und gegen „Globalismus“ entspricht exakt der Ideologie der AfD.

Ja, diese Bundestagswahl war tatsächlich eine Entscheidung über das politische Leben und den politischen Tod. Nichts braucht die Europäische Union jetzt dringender als eine starke, proeuropäische Regierung. Die plötzliche Verwandlung des transatlantischen Bündnisses in eine transatlantische Konfrontation hat Europa in einen Schockzustand versetzt. Was soll aus unserem Kontinent werden, wer wird seine Werte sichern, wie soll er sich verteidigen?

Bekommt Deutschland, bekommt Europa nun diese starke, proeuropäische Regierung? Friedrich Merz hat vor wenigen Wochen gewackelt und im Bundestag bei einer Abstimmung gemeinsam mit der AfD eine Mehrheit erzielt. Doch seine Ankündigung, nicht mit der AfD zu koalieren, scheint ernst gemeint. Und die anderen Varianten – von denen zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht, welche am Ende möglich sein werden – sind in jedem Fall pro-europäisch.

Allerdings hat die kommende deutsche Bundesregierung nicht nur die verantwortungsvolle Aufgabe, Europa zu stärken. Sie muss auch zusehen, dass die deutschen Wählerinnen und Wähler bis zur nächsten Wahl zur Überzeugung gelangen, dass es mit dem Land aufwärts geht. Die schwächelnde Wirtschaft, die Migrationsprobleme, die Verteidigungskrise – all das muss sich bessern, sonst wird die Herausforderung, eine tragfähige Regierung abseits der AfD zu bilden, beim nächsten Mal langsam unmöglich.

Kann das Schwarz-Rot besser oder Schwarz-Rot-Gelb oder Schwarz-Rot-Grün? Das kann allein schon deshalb niemand sagen, weil noch nicht klar ist, wer die handelnden Personen sein werden. SPD-Chef Olaf Scholz dürfte wohl gehen, FDP-Chef Christian Lindner womöglich auch.

Zuletzt blickte Deutschland nach Österreich. Als in Wien FPÖ-ÖVP-Regierungsverhandlungen geführt wurden, jubelte die AfD. Allerdings zu früh. Jetzt, wo eine ÖVP-SPÖ-Neos-Koalition im zweiten Anlauf zu gelingen scheint, könnten sich die angehenden deutschen Regierungsparteien ein Beispiel nehmen: Darf’s ein Wiener Kompromiss sein, liebes Berlin?

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur