Die Französische Konterrevolution von 2024
Es ist eine Konterrevolution. Zwar keine im Sinne eines blutigen Gegenschlags, denn auch wenn Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin in den vergangenen Tagen vor Gewaltausbrüchen warnte, so besteht kein Zweifel daran, dass es der demokratische Wille des Volkes ist, der die vielleicht größte Umwälzung in der europäischen Politik seit 1989 herbeiführen wird. An diesem und dem darauffolgenden Sonntag, den 7. Juli, wählt Frankreich ein neues Parlament, und nach allen Vorhersagen wird die antieuropäische Rechtsaußen-Partei Rassemblement National (RN) die Mehrheit erringen – zusammen mit Abtrünnigen der Konservativen ist selbst eine absolute Mehrheit nicht auszuschließen.
Frankreich war die erklärte Antithese zum Rechtsextremismus.
Ist es politische Hysterie, daraus ein Drama zu machen? Schließlich wäre Frankreich nicht das erste Land, das eine rechtsgeführte Regierung bekäme. Ungarn, Italien, Niederlande … Doch die Bedeutung einer Angelobung eines Premierministers des RN in Frankreich wäre unvergleichlich größer. Sie hätte Konsequenzen, die weit über das Land hinausreichen und den Fortbestand der Europäischen Union betreffen. Das hat zwei Gründe: einen symbolischen und einen realpolitischen.
Die Symbolik rührt von der demonstrativen Ächtung des Rechtsextremismus in Frankreich her, die den Rassemblement National und seinen Vorgänger, den Front National, begleitet und ihnen das Leben schwer gemacht hat. Dies wiederum gründete im französischen Selbstverständnis, seit der Revolution von 1789 das Urheberrecht auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit innezuhaben und diese Werte auf dem Weg der europäischen Einigung zu verbreiten. Frankreich war die erklärte Antithese zum Rechtsextremismus.
Als der sich Anfang der 1970er-Jahre in der Partei Front National sammelte, schlug ihm die Missbilligung mit aller Wucht entgegen. Zwölf Jahre lang musste Jean-Marie Le Pen warten, ehe er als Parteichef des Front National zum ersten Mal in die Interview-Sendung „Stunde der Wahrheit“ des öffentlich-rechtlichen Senders Antenne 2 eingeladen wurde, und der Empfang war bezeichnend: „Sie sind ein Außenseiter des politischen Lebens. Sie flößen Angst ein. Erklären Sie sich!“, fauchte der Interviewer. Das war 1984.
Als in Österreich im Jahr 2000 die schwarz-blaue Regierungskoalition unter Beteiligung von Jörg Haiders FPÖ angelobt wurde, warf sich der damalige französische Staatspräsident Jacques Chirac, ein Konservativer, in vorderster Reihe in den Kampf gegen diesen Tabubruch und beharrte länger als andere Regierungschefs auf den „Maßnahmen“ gegen die österreichische Regierung.
Zwei Jahre später erlitten er und seine Nation den ersten, von Rechtsaußen herbeigeführten Schock: Im April 2002 erreichte Jean-Marie Le Pen, Kandidat des Front National, im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen Platz zwei und damit die Stichwahl. Eine Provokation, die eine heftige Gegenreaktion auslöste: Die ungeschriebene Übereinkunft aller wesentlichen Parteien und Kräfte des Landes, Rechtsextreme von der Macht fernzuhalten, führte zur massiven Unterstützung des konservativen Kandidaten Jacques Chirac, der die Wahl schließlich mit mehr als 82 Prozent gewann.
Diese Übereinkunft der sogenannten „Republikanischen Front“ ist heute, zwei Jahrzehnte später, hinfällig. Wie so viele Strategien gegen die Rechten nutzte sich auch diese ab, erwies sich als wirkungslos und schließlich sogar als kontraproduktiv.
Wenn eine französische Regierung unter Jordan Bardella die wesentlichen europäischen Projekte zu sabotieren beginnt, bleibt von den großen Plänen bald nichts mehr übrig.
Frankreich, das sich als Hort des Widerstands gegen den Rechtsextremismus verstand, fügt sich – wenn nicht ein politisches Wunder geschieht – an den kommenden zwei Wochenenden der Unausweichlichkeit eines Sieges der einst Geächteten.
Die Symbolkraft dieses Ereignisses lässt sich schwer überschätzen.
Dazu kommt die realpolitische Wucht einer Rechtsaußen-Regierung in Paris. Deren Einfluss ist mit rechtsgeführten Regierungen in Ungarn oder Italien nicht zu vergleichen. Frankreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union, deren zweitgrößter Nettozahler und einzige Atommacht, und politisch zusammen mit Deutschland allem Gesäusel von Multipolarität zum Trotz der einzige und unverzichtbare Motor.
Die proeuropäischen Kräfte mögen sich darüber freuen, dass sie dank ihrer Mehrheit im EU-Parlament und im Rat Ursula von der Leyen und die anderen Spitzenkräfte in die vorgesehenen Positionen hieven werden – wenn eine französische Regierung unter Jordan Bardella die wesentlichen europäischen Projekte zu sabotieren beginnt, bleibt von den großen Plänen bald nichts mehr übrig. Auch Staatspräsident Macron wären ohne Parlamentsmehrheit die Hände gebunden. Derzeit bemühen sich Bardella und Marine Le Pen, die RN-Kandidatin für die Präsidentschaftswahl 2027, um den Anschein von Pragmatismus und Behutsamkeit. Wer jedoch in den vergangenen Jahren ihre politischen Forderungen und Kommentare verfolgt hat, weiß, was ihnen vorschwebt.
Der Rassemblement National ist gegen den Green Deal, gegen die Russlandsanktionen, gegen Rechtsstaatlichkeitsverfahren und vor allem auch dagegen, dass Europäisches Recht in wichtigen Fragen wie etwa den Asylgesetzen über nationalem Recht steht. Die Souveränität soll von Brüssel zurück zu den nationalen Parlamenten wandern.
Wenn das keine französische Konterrevolution ist, die Europa verändert, was wäre dann eine? „Europa ist sterblich“, sagte Emmanuel Macron im April in einer Rede an der Pariser Sorbonne. Man kann den Satz als pathetische Warnung lesen oder als schicksalsergebene Feststellung.
Auch wenn Frankreich aus den genannten Gründen der zentrale Akteur des legalen Umsturzes ist, so ist es nicht der einzige. Die Zerstörung Europas, wie wir es kennen, ist das Ziel einer rechtsgerichteten Bewegung, die in erster Linie national organisiert und bloß in zweiter Linie europäisch vernetzt ist. Sie benötigt keine Mehrheit im Europäischen Parlament, ihr Spielfeld sind die nationalen Parlamente, ihr Vorhaben ein Auf-den-Kopf-Stellen der konstitutionellen Hierarchie: Der Nationalstaat soll wieder über der EU stehen.
Die anschwellende Konterrevolution wird begleitet von Warnungen vor ihrem autoritären Charakter. Die Sorge ist alles andere als unbegründet. Der Weisenrat, der 2000 die schwarz-blaue Bundesregierung untersuchte, fällte damals das harsche Urteil, die FPÖ sei eine „rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen“. Heute klingt das wie das Anforderungsprofil für eine erfolgreiche Parlamentspartei. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ erinnert an „die Nachsicht gegenüber Autokraten“, die den Rechten eigen ist, und an deren beabsichtigten „Bruch mit den Prinzipien der Republik“. Und doch ist der Weg der Rechtsparteien an die Macht ein demokratischer. Auch wenn es schwerfällt, das anzuerkennen: Le Pen, Meloni, Wilders, Kickl, Höcke und Weidel erringen Mehrheiten, obwohl die großen Medien ihnen ablehnend gegenüberstehen.
Wer soll sie aufhalten, wenn das Volk es so will?
Was zählen Grundrechte und Diskriminierungsschutz gegenüber Patriotismus und nationaler Souveränität?
An diesem Punkt stampft Macron – und mit ihm viele Demokraten – mit dem Fuß auf. Er will es nicht glauben, dass das Volk tatsächlich will, was es zu wollen scheint. Das Ende des Kampfes gegen den Klimawandel? Die Niederlage der Ukraine? Die Diskriminierung von migrantischen Staatsbürgern durch die Einführung einer „nationalen Bevorzugung“? Das Ende der europäischen Integration?
Es liegt an diesem Sonntag in der Verantwortung der Wählerinnen und Wähler, sich zu deklarieren, und alles deutet darauf hin, dass das Volk Macron eine trotzige Antwort gibt: Ja, das wollen wir!
Man darf diese Konterrevolution nicht unterschätzen, sie scheint ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht zu haben. Sie wird die Rechten in mehreren Ländern an die Macht bringen und politische Umwälzungen durchsetzen. Sie wird das Wertegerüst des Kontinents infrage stellen. – Was zählen Grundrechte und Diskriminierungsschutz gegenüber Patriotismus und nationaler Souveränität? Sie wird nicht nur selbst zwischen Pragmatismus und Dogmatismus pendeln, sondern auch andere Parteien verändern, radikalisieren oder mit sich reißen.
Wie weit die Neue Rechte dabei kommt, wird Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung. Wahlen, Protest- und Streikbewegungen, Volksabstimmungen, Urteile von Gerichtshöfen – all das sind Institutionen, auf denen die Demokratie beruht. Die liberale, proeuropäische Weltsicht ist in der Defensive. Sie muss erst beweisen, dass sie ihre Anhänger aus der Lethargie reißen kann. Es wird politische Überzeugungskraft und Standhaftigkeit brauchen, um Verfassungen vor illiberalen Eingriffen zu bewahren und universelle Rechte vor grundrechtswidrigen Volksabstimmungen zu schützen. Und schließlich braucht es in der Demokratie eine Mehrheit, um die Welt wieder so zu gestalten, wie man möchte.
Schafft das der liberal gesinnte Teil der Gesellschaft? Kann er sich aufraffen und neu organisieren? Mit dem Finger auf Macron zu zeigen, weil der das Volk in die Verantwortung nimmt, ist billig. Am Sonntagabend gegen das Wahlergebnis zu demonstrieren, ebenso.
Die Konterrevolution in Europa ist im Gange. Wie leicht will man es ihr machen?