Die inflationäre „Schicksalswahl“
Diesen Sonntag findet in Österreich angeblich eine sogenannte „Schicksalswahl“ statt. Das schreiben die Medien, das trommeln die Parteien. Alarmstufe Rot also. Haben Sie schon einmal „Schicksalswahl“ gegoogelt? 2015 ging es bei der Wiener Gemeinderatswahl um alles. So wurden dieses Jahr schon Wahlen in Venezuela, auf EU-Ebene, in Deutschland, Frankreich sowie den USA bezeichnet. Auch im Frühjahr 2023 sprach man bei der Landtagswahl in Niederösterreich von einer Schicksalswahl – das sogenannte „Schicksal“ hieß am Ende Schwarz-Blau. Und das war eben alles andere als Fügung, sondern Resultat von Wählerwillen gepaart mit sehr konkreten Koalitionsverhandlungen.
„Schicksal“ – den Begriff strapaziert die Politik derzeit über alle Maßen. Es vermittelt etwas Religiöses; dass eine höhere Macht Geschicke und Geschichte lenke. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch eine Machtlosigkeit des Einzelnen. Und das wiederum ist eine nicht unangenehme Ausrede für Politiker, um sich aus der Verantwortung stehlen zu können. Klimawandel? Ja, der ist eben da. Die hohe Inflation? Was soll man in einer globalisierten Welt tun?! Migration und Flucht? Davon wird man regelrecht überrollt, die Ursprünge liegen außerhalb Europas Grenzen – was soll man da machen? Kommt Ihnen das bekannt vor?
Jetzt soll auch noch der Wähler über das „Schicksal“ des Landes entscheiden. Das mag vielleicht als Strategie taugen, um Bürger zu emotionalisieren und mit einem leichten Panikgefühl versehen zur Urne zu treiben. Das Volk entscheidet mit seiner Stimme aber nicht über ein diffuses „Schicksal“, sondern sehr konkret darüber, ob das Land eine historische Zäsur erleben soll. Das ist eine schwere Verantwortung, die so gar nichts mit Gefühl und Esoterik zu tun haben sollte – sondern mit einer wohlüberlegten Abwägung.
Das Volk bekommt, was es gewählt hat. Man sollte sich nur bewusst sein, was das ist.
Herbert Kickl liegt mit seiner FPÖ seit Monaten auf Platz eins aller Umfragen – das Match mit der ÖVP wird am Ende doch noch knapp. Nehmen wir (sehr theoretisch) an, Kickl macht das Rennen, schafft es, eine Koalition zu bilden – und würde als Kanzler angelobt. Es würde mit einem radikalen Umbau des Staates einhergehen. Das ist kein Alarmismus, das ist einfach Tatsache – so funktioniert Demokratie eben. Das Volk bekommt, was es gewählt hat. Man sollte sich nur bewusst sein, was das ist. Freilich: Niemand liest Parteiprogramme – aber dort sind die blauen Ideen beschrieben. Einige davon: Es soll eine Meldestelle für kritische Lehrer geben. Das Schuldfähigkeitsalter soll von 14 auf 12 Jahre gesenkt werden. Es wird von „Transgender-Gehirnwäsche“ geredet. Das Asylrecht soll temporär ganz ausgesetzt und der EU-Migrationspakt ignoriert werden. Das würde Österreich Unsummen kosten, weil die EU wegen Regelverstößen kein Geld mehr überweisen würde. Viktor Orban verliert dadurch aktuell hunderte Millionen. Kunst, Kultur, Medien – mit der FPÖ würde all das beschnitten werden. Österreich würde definitiv einen anderen Weg als bisher nehmen. Es ist davon auszugehen, dass die FPÖ-Wähler genau diese Veränderung wollen. Paradoxerweise vielleicht sogar, damit alles so bleibt, wie man es die letzten Jahrzehnte über kannte.
Es ist davon auszugehen, dass die FPÖ-Wähler genau diese Veränderung wollen. Paradoxerweise vielleicht sogar, damit alles so bleibt, wie man es die letzten Jahrzehnte über kannte.
Die Welt hat sich gewandelt – und diese Veränderung soll mit Veränderung gestoppt werden: Migrationskrise seit 2015; Teuerung und Inflation seit dem Ukrainekrieg; Umweltkatastrophen. Europas Gesellschaften müssen mit widrigeren Umständen leben – und die Politik verlangt Anpassung. Integration: Das ist eine Aufgabe, die alle zu erledigen haben. Inflation: Dann muss man eben mit weniger auskommen, wir waren ohnehin wohlstandsverwöhnt. Umweltkatastrophen: Bitte fahren Sie künftig Elektroauto. Traditionelle Familienbilder? Rückständig.
Jetzt kann man sagen, dass eine Vorwärtsbewegung und Weiterentwicklung von Gesellschaften gut ist; dass Veränderung und Reformen notwendig sind. Und dass es logisch ist, dass das auch mit Vorgaben, Verboten und neuen Regeln einhergeht. Man kann aber auch verstehen, dass es Menschen gibt, deren Weltbild das einfach nicht ist. Warum sollte man sich mit der neuen, lauten Identitätspolitik auseinandersetzen, wenn man einfach ein traditionelles Familienbild mit Vater, Mutter, Kind, Haus und Baum bevorzugt? Warum muss man sich plötzlich rechtfertigen, wenn man mit dem Auto fährt? Warum darf man es nicht schlecht finden, wenn in Schulen plötzlich mehr Menschen aus fremden Kulturen die Klassen füllen, man sich damit nicht identifizieren kann?
Die veränderten Umstände der letzten Jahre haben die Menschen müde und grantig gemacht. Es herrscht auch große Verunsicherung, das führt zu Protest: ein Hauptmotiv, die FPÖ zu wählen. Oder der Rassemblement National in Frankreich. Oder die AfD in Deutschland. Oder Trump. Die westlichen Gesellschaften kämpfen überall mit den gleichen Herausforderungen, denselben unangenehmen, veränderten äußeren Umständen.
Anstatt das Prinzip Hoffnung auszurufen, haben sich auch die meisten anderen Parteien auf diese den Rechten in die Hände spielende Verunsicherung gesetzt
Krisen verlangen einen Umgang damit und politische Gestaltung. Den westeuropäischen Regierungen ist das in den vergangenen Jahren mal besser, mal schlechter gelungen. Teile der Bevölkerung hat es unter dem Strich aber schlicht überfordert. Sie fühlten sich zurückgelassen, wurden nicht abgeholt – dafür mit allerlei neuen Verboten und Regeln belegt, die ihr Leben schwerer machten. Anstatt das Prinzip Hoffnung auszurufen, haben sich auch die meisten anderen Parteien auf diese den Rechten in die Hände spielende Verunsicherung gesetzt: SPÖ-Chef Andreas Babler spricht von herrschender Mangelverwaltung. Die ÖVP droht mit Kickl. Die Grünen sprechen von drohenden Klimakatastrophen, wenn nicht dieses und jenes jetzt und sofort passiert. Kaum eine Partei vermittelt nicht, dass das Land ohnehin schon hoffnungslos an die Wand gefahren ist.
Was auch maßlos übertrieben ist.
Für die nächste Legislaturperiode haben die Regierenden neben vielen sachpolitischen vor allem eine psychohygienische Monsteraufgabe: Sie müssen den Menschen diese Verunsicherung nehmen. Durch Zuhören. Durch Ernstnehmen von Sorgen. Durch mühsame Überzeugungsarbeit, anstatt Kritiker zu betonieren. Das Land steht weiterhin vor großen Herausforderungen, die Krisen sind nicht vorbei, wir waren schon in besserer Verfassung. Ob wir das hinbekommen, hat viel damit zu tun, ob die Politik es schafft, zu motivieren und zu inspirieren.
Fortuna sollten wir jedenfalls in Ruhe lassen, sie kann uns hier nicht helfen – auch wenn wir sie noch so oft anrufen.