Leitartikel

Die Kollateralschäden im Fall Lena Schilling

Das Niveau der Innenpolitik erreicht neue Tiefpunkte, alle Schleusen scheinen geöffnet. Das hat Konsequenzen, die weit über Fehler bei den Grünen hinausgehen.

Drucken

Schriftgröße

Harald Vilimsky, einer der zahlreichen blauen Raubeine fürs Grobe, beflegelt den Bundespräsidenten unterirdisch als "Sugardaddy". Im Parlament wettert die FPÖ gegen den „EU-Wahnsinn“. In der „Kronen Zeitung“ darf Spitzenkandidat A von Partei A allen Ernstes auswalzen, dass er mit Spitzenkandidatin B von Partei B „Schluss gemacht“ habe.

Nein, dabei handelt es sich nicht um die neueste Folge einer billigen Trash-Serie mit C-Promis, die an niedere Instinkte appelliert. Das ist das tägliche Programm, das sich Mitte Mai 2024 Innenpolitik nennt. Lauter, schriller, entgrenzter: Bleiben Sie dran, der nächste Untergriff kommt bestimmt! Während in Staaten wie Estland ernsthaft diskutiert wird, ob es angemessen ist, Soldaten in die Ukraine zu entsenden, beschäftigt sich Österreich atemlos mit der Polit-Show, die sich anfühlt wie eine Dauerfolge des zynischen TV-Erfolgs „House of Cards“. Nach vielen Korruptionsepisoden stehen nun „Sex und Lügen“ am Programm.

Uff. Das werden zähe drei Wochen, bis die Europa-Wahl geschlagen ist. Und der Wahlkampf für die Nationalratswahl beginnt erst. Wahlkampf ist selten die Zeit von hehrem Wettstreit der besten Argumente – diesmal droht das Niveau aber ungebremst ins Bodenlose zu sinken. Wir werden uns wundern, welche Tiefpunkte möglich sind. Der Fall Lena Schilling scheint alle Schleusen geöffnet zu haben. Nach knapp zwei Wochen Debatte über Gossip Girl Schilling sind erhebliche Kollateralschäden zu verzeichnen, die den ohnehin vorhandenen Zorn auf „die da oben“ gnadenlos verstärken.

Beschädigter Nummer 1: Bundespräsident Alexander Van der Bellen, mit seinem Talent für heiter-nachdenkliche Gelassenheit einer der wenigen Spitzenpolitiker mit intakten Vertrauenswerten. Seine Beliebtheit fußt auch darauf, dass er das Gegenteil von Hektik verbreitet, sich selten äußert und souverän über den Niederungen des tagespolitischen Gezänks schwebt. Nun hat er die Position verlassen und Lena Schilling in Schutz genommen – eine Parteinahme, die einem überparteilichen Staatsoberhaupt schlecht zu Gesicht steht.

Gerüchte kursierten immer: über angebliche häusliche Gewalt von Landeshauptleuten, über angebliche sexuelle Neigungen von Spitzenpolitikern – aus verflixt guten Gründen wurde nie darüber berichtet.

Beschädigte Nummer 2: die Grünen, die auf offener Bühne heillos dilettieren und mit komplett verunglücktem Krisenmanagement die Notlage permanent weiter eskalieren. Denn natürlich schwingt eine gehörige Portion Sexismus in manch unerbittlichem Scherbengericht über Schilling mit, selbstredend ist es Fakt, dass Frauen in der Politik immer noch nach anderen Kriterien beurteilt werden als Männer. Karoline Edtstadler oder Beate Meinl-Reisinger und viele andere können Lieder davon singen. Was bei Männern bewundernd als „Führungsstärke“ gilt, wird bei Frauen als „überehrgeizig“ gegeißelt, garniert mit dem gönnerhaften Altherren-Satz: „Politik ist kein Mädchenpensionat.“ Aber: Alle Vorwürfe gegen Schilling plump als „Gefurze“ abzutun und mit dem Argument „sexistisch“ wegzuwischen, ist zu billig, zumal für eine Partei, die vehement von der ÖVP „untadelige Personen“ als Kanzler einforderte. Mit einer Entschuldigung für verbreitete Unwahrheiten wäre die Causa vielleicht erledigt gewesen, mit der reflexartig errichteten Wagenburg ist der grüne Markenkern „saubere Politik“ nachhaltig angekratzt.

Und: Es war ein Risiko, auf die unerfahrene Quereinsteigerin Schilling zu setzen – die Grünen gingen es bewusst ein, um aus dem Kandidatenreigen der männlichen Polit-Haudegen hervorzustechen und mit einem jungen Shootingstar zu punkten. Doch dann können sie nicht gleichzeitig Welpenschutz für ihre Kandidatin einfordern, diese Spezialform von das Beste aus beiden Welten geht sich nicht aus.

Beschädigte Nummer 3: die Politik an sich. Die Konsequenzen gehen weit über die Grünen und die Fehler ihrer Spitzenkandidatin hinaus. Das verursacht zu Recht vielen Unbehagen. Bisher galt hierzulande das Prinzip, dass nicht jeder Winkel des Privatlebens grell ausgeleuchtet wird. Gerüchte kursierten immer: über angebliche häusliche Gewalt von Landeshauptleuten, über angebliche sexuelle Neigungen von Spitzenpolitikern – aus verflixt guten Gründen wurde nie darüber berichtet. Denn zum Wesen von Gerüchten gehört, dass sie weder stichhaltig beweis- noch eindeutig widerlegbar sind, ohne sie weiterzuverbreiten und damit höchstpersönliche Lebensbereiche unbeteiligter Dritter gegen deren Willen an die Öffentlichkeit zu zerren. Das wichtige (journalistische) Prinzip „audiatur et altera pars“ – also alle Beteiligten anzuhören, bevor ein Urteil fällt – stößt an Grenzen. Dazu kommt: Gerade im heiklen Bereich des Zwischenmenschlichen sind oft mehrere Seiten befangen oder von Eigeninteressen getrieben.

Boulevardmedien kratzen derartige ethische Überlegungen selten, sie bedienen enthemmt und mit süffigen Details genüsslich den Voyeurismus. Der erbarmungslose Sofortismus in Social Media führt zu Schnellurteilen, je krasser, desto mehr Aufmerksamkeit. Für Abwägungen bleibt zu oft zu wenig Zeit.

Natürlich gibt es ein legitimes Bedürfnis, den Charakter von Politikerinnen und Politikern zu beurteilen, schließlich ist Glaubwürdigkeit in der Politik ein hohes Gut. Aber was sind die Maßstäbe? Wann ist das Private nicht mehr politisch, vor allem Privates von Nichtpolitikern? Die Grenzen der heiklen Gratwanderung sind nie eindeutig.

Mit dem Fall Lena Schilling wurde eine Tür ins Privatleben aufgestoßen. Sie wird schwer wieder zu schließen sein.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin