Kommentar

Die Nahost-Challenge

Die „Operation Pager“ ist beispiellos. Es braucht jedoch etwas viel Spektakuläreres.

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Um halb vier Uhr Nachmittag am Dienstag dieser Woche begann eine der erstaunlichsten Operationen des israelischen Geheimdienstes Mossad der vergangenen Jahre mit einem harmlosen Klingeln, Piepen oder Brummen Tausender Pager im Libanon. Deren Besitzer nahmen an, dass sie über ihr persönliches Kommunikationsgerät von ihrer Leitstelle kontaktiert wurden, denn sie alle waren Mitglieder der islamistischen, paramilitärischen Terrororganisation Hisbollah. Doch auf die Signaltöne folgte Sekunden später eine Explosion.

Der Mossad hatte verdeckt Tausende Pager und Walkie-Talkies – Letztere explodierten am Mittwoch – an die Hisbollah verkauft, präpariert mit einer geringen Menge Sprengstoffs und so konstruiert, dass sie ferngezündet werden konnten.

37 Personen kamen nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums ums Leben, rund 3000 wurden teils schwer verletzt. Laut Berichten starben auch zwei Kinder.

Israel zeigt, was sein Geheimdienst kann, und zumindest für die operationelle Leistung erntet es Bewunderung. Über den strategischen Nutzen der Aktion spekulieren Experten seit Dienstag. Tausende Hisbollah-Mitglieder vorübergehend auszuschalten, wäre ein perfekter Auftakt für eine Überraschungsoffensive, doch die kam – zumindest bis Redaktionsschluss Donnerstagabend – nicht.

Die Details der Pager-Operation mögen fesselnd sein: Wer fertigte die Geräte an? Wann wurden sie mit Sprengstoff bestückt? Wie gelang es, die Hisbollah als nichts ahnende Kunden zu ködern? Wie genau funktionierte der Zündmechanismus? Doch andere, wenig beachtete Aspekte im Kontext des aktuellen Konflikts sind folgenschwerer – und beunruhigend.

Das Weiße Haus, der wichtigste Verbündete Israels, war nicht in die Pläne eingeweiht. Just zu dem Zeitpunkt, als die Pager explodierten, befand sich Amos Hochstein, der Nahost-Beauftragte der US-Regierung, in Israel, um die Regierung von Benjamin Netanjahu dazu zu drängen, den Konflikt mit der Hisbollah nicht zu eskalieren.

Am Mittwoch wiederum, als die Walkie-Talkies im Libanon explodierten, traf US-Außenminister Antony Blinken auf seiner mittlerweile zehnten Nahost-Reise seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 in Ägypten ein. Bemerkenswert ist, dass Blinken dabei zum ersten Mal auf einen Besuch in Israel verzichtete.

Niemand kann behaupten, es gäbe in der aktuellen dramatischen Lage eine einfache Lösung; eine, die keine großen Risken berge und keine Nachteile mit sich bringe. Doch es läuft auf zwei Strategien hinaus, und die Differenzen darob werden zwischen der US-Regierung und Netanjahu zusehends größer.

Es gäbe da eine wahrlich packende Zäsur, auf die alle warten. 

Netanjahu verfolgt eine Strategie, die auf militärische Macht setzt. Er hält ein Abkommen mit der Hamas, das die Befreiung der Geiseln beinhaltet, für nicht annehmbar, weil die Hamas und auch Ägypten darauf beharren, dass die israelischen Truppen sich auch von der Grenze zwischen Gaza und Ägypten zurückziehen, dem sogenannten Philadelphi-Korridor. Das Risiko, dass die Hamas diese Grenze neuerlich für Waffenschmuggel benutzt, will Netanjahu nicht eingehen. Ohne Abkommen mit der Hamas bleibt allerdings auch im Konflikt mit der Hisbollah nur eine militärische Option: Abschreckung, Intensivierung der Angriffe – und Aktionen wie die Operation Pager.

Das Weiße Haus hält Netanjahus Weg für falsch. US-Präsident Joe Biden sagte, Netanjahu würde „nicht genug“ für ein Waffenstillstandsabkommen tun. US-Außenminister Blinken hält die Frage des Philadelphi-Korridors für keinen hinreichenden Grund, um den Deal scheitern zu lassen. Zudem glaubt die US-Regierung seit Längerem, dass die Fortsetzung des Krieges in Gaza militärisch nichts mehr bringe und die Geiseln der Hamas nur durch einen Deal befreit werden können.

Die Spaltung zeichnet sich mittlerweile auch innerhalb der israelischen Regierung selbst ab. Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte bereits im August vor ausländischen Journalisten, die Hamas als militärische Formation „existiert nicht mehr“, und er warnte, dass sich „das Fenster für einen Geisel-Waffenstillstands-Deal schließt“. Zuletzt wurde bereits offen darüber spekuliert, dass Netanjahu Gallant entlassen könnte.

Die Operation Pager war packend, aber sie taugt nicht zum Gamechanger. Die Hisbollah ist getroffen, gedemütigt, aber deshalb nicht besiegt.

Ein Waffenstillstandsdeal hingegen wäre die wahrlich spektakuläre Zäsur, auf die alle warten: die Angehörigen der Geiseln, das Weiße Haus, Verteidigungsminister Gallant, ein großer Teil der israelischen Bevölkerung. Hisbollah-Oberbefehlshaber Hassan Nasrallah hat angekündigt, den Beschuss Israels einzustellen, wenn der Krieg in Gaza beendet ist. Auch an dieser Front würde ein Waffenstillstandsdeal eine neue Situation schaffen.

Ja, der elende Rest der Hamas würde ein Kriegsende als Sieg feiern, und die Hisbollah und die ganze verachtenswerte „Achse des Widerstands“ ebenso. Aber die Geiseln kämen nach Hause, ein nicht mehr zu rechtfertigender Krieg wäre vorbei, und ein neuer, unbegrenzter vielleicht gerade noch verhindert.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur