Wir müssen über die Neutralität reden
Es waren die Monate der Selbstverzwergung. Aufgeregter Wahlkampf, ewige Koalitionsgespräche, FPÖ schnurstracks auf Kurs ins Kanzleramt und retour, Neos weg vom Verhandlungstisch und wieder da. Als zentral galten Themen wie: Tempo 80 oder Tempo 150? Soll der Nikolo Pflichtprogramm in Schulen werden? Wie behält Österreich seinen Ruf als Skination? Kurz: Immer schriller und kleingeistiger kreiste die Innenpolitik um sich selbst.
Damit ist spätestens seit dieser Woche Schluss. Österreich mag mit sich beschäftigt gewesen sein – doch die Welt drehte sich rasant weiter. Im Schock-Live-Modus mit Gruselszenen (die Abrissbirnen Donald Trump und J.D. Vance trampeln auf offener Bühne auf Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj herum) zerstören die USA die bisherige Weltordnung. Zeitenwende ist für das Schreckens-Rambazamba aus geopolitischen Provokationen und Handelskriegserklärungen mit Zöllen fast ein Hilfsausdruck.
Denn gewiss ist: Die Nach-Weltkriegs-Familienaufstellung seit 1945, in der die USA für Europas Sicherheit sorgten und bezahlten, ist zerbrochen. Die USA sind nicht mehr Europas Verbündeter Nummer 1, sondern Bedrohung. Trumps neue beste Freunde sind Autokraten von Russland bis Ungarn.
Die westliche Allianz, lange Garant für Wohlstand und Sicherheit, besteht nicht mehr. Mit dramatischen Konsequenzen für Europa. Nur drei Beispiele: Ohne USA schützt Europa kein Nuklearschirm. Im Technologiebereich hinkt Europa gefährlich hinter China und den USA hinterher. Russland hat eine florierende Kriegswirtschaft in Schwung gebracht und im Vorjahr laut Schätzungen 1550 Panzer gebaut – Deutschland verfügt über 300 Panzer. Die Regeln der neuen Wirklichkeit lauten: Europa muss schnell stark werden. Ein waghalsiges – und sehr teures – Manöver.
Die Aufrüstung Europas wird Österreichs Innenpolitik stärker dominieren als manchen im heimeligen Zwergen-Paralleluniversum bewusst war.
Die europäische Militärpolitik verändert sich von Grund auf. Ein fundamentaler Umbruch, der – im Bestfall – neue Kräfte wecken kann. Aus der dramatischen Weltwirtschafts- und Eurokrise vor 15 Jahren ging Europa gestärkt hervor, Ähnliches könnte diesmal passieren, so paradox das klingt. Klar ist: Österreich wird bei der Neuaufstellung nur eine Nebenrolle neben den großen Playern spielen. Aber: Die geopolitischen Erschütterungen, die Zoll-Handelskriege und die Aufrüstung Europas werden Österreichs Innenpolitik stärker dominieren als manchen im heimeligen Zwergen-Paralleluniversum bewusst war.
Gleich alle drei Parteichefs der neuen Dreierkoalition, Kanzler Christian Stocker, Vizekanzler Andreas Babler und Außenministerin Beate Meinl-Reisinger, reisten am Donnerstag nach Brüssel und erlebten ihr Rendezvous mit der Wirklichkeit. Im Regierungsprogramm taucht Sicherheitspolitik erstmals auf Seite 82 auf, sie soll „weiter entwickelt“ werden, konkreter wird die Koalition nicht. Das wird nicht reichen. Die Regierung muss Farbe bekennen.
Wie und mit wie viel Geld positioniert sich Österreich in der europäischen Sicherheitsarchitektur, wie weit ist es bei der Unterstützung der Ukraine zu gehen bereit? Um Antworten auf diese Fragen kann sich die Regierung nicht herumschummeln. Um eine ergebnisoffene Diskussion, ob Österreich wirklich gemeinsam mit Irland und Malta den Neutralitäts-Außenseiterstatus erhalten will, auch nicht.
Der letzte Versuch einer Debatte darüber, ob die Neutralität zeitgemäß ist, wurde nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine mit dem fadenscheinigen Pseudo-Argument abgewürgt, dass die Mehrheit der Österreicher Änderungen bei der Neutralität ablehnt. Mag sein. Aber die Mehrheit der Österreicher zahlt auch nicht gern Steuern, trotzdem will niemand alle Steuern abschaffen. Etwas grundsätzlicher als „mag niemand“ sollte die neue Regierung schon Pro und Kontra abwägen.
Denn Österreich ist in der neuen Weltunordnung so etwas wie ein Frontstaat – mit den Putin-Verstehern in Ungarn und der Slowakei als Nachbarn. Ein nostalgisch-mythisches „Jetzt noch die Reblaus“-Singen wird zu wenig sein, um die neue Bedrohung aus Russland abzuwehren. Dazu braucht es, neben geopolitischem Weitblick, neue wirtschaftliche Ehrlichkeit: Bisher dominierte das Motto „Hauptsache, gute Geschäfte“, und sei es mit Russland. Auch hier braucht es eine neue Strategie.
Lauter kniffelige Herausforderungen. Sitzt dafür die Idealbesetzung in der neuen Regierung? Natürlich nicht, Erfahrung haben die wenigsten vorzuweisen.
Aber die gefährliche Alternative hätte gelautet: Trump-Bewunderer Herbert Kickl als Regierungschef. Der Vergleich macht sicher.