Die FPÖ im Nacken
Die blaue Sturmflut wogt, ihre Wellen werden immer höher: Mit 25,36 Prozent eroberte die FPÖ bei der Europawahl im Juni erstmals Platz 1 bei einer Bundeswahl, mit 28,85 Prozent baute sie ihre Poleposition bei der Nationalratswahl im September aus, dann satte 28 Prozent im Oktober in Vorarlberg, mit 34,76 Prozent und einem Rekord-Plus von 17,27 Prozent jetzt ein Kantersieg in der Steiermark.
Die Bilanz des Superwahljahres 2024 fällt trotz aller Kalmierungsversuche dramatisch aus: Die traditionellen Großparteien ÖVP und SPÖ sacken ab, die FPÖ wächst zur neuen Großpartei. Die Zeiten, wo die Rechtspopulisten nur wenig gebildete junge Männer und andere Abgehängte anzogen, sind vorbei. Mittlerweile punktet die FPÖ in allen Bevölkerungsschichten und sammelt Zorn und Unzufriedenheit ein.
Und zwar als Einzige: Noch im Vorjahr wanderten Proteststimmen auch zu anderen Anti-Establishment-Parteien, zur KPÖ etwa oder zu Impfgegnern. Heute hat die FPÖ das Protestmonopol. Wen Abstiegsängste oder Zukunftssorgen plagen, wer pessimistisch auf Österreichs Entwicklung blickt, wer frustriert oder angefressen ist, wählt FPÖ. Das hat Konsequenzen in Bezug auf die Einstellung zur Demokratie: Ein Drittel hat kein Problem mit dem viel zitierten „starken Mann“.
Da gerät etwas ins Rutschen, und zwar drastischer, als selbst Pessimisten prophezeit hatten. Wenn die blaue Welle derart vehement weiterrollt, scheint ein FPÖ-Kanzler Herbert Kickl nur eine Frage der Zeit zu sein. Der blaue Erdrutsch in der Steiermark könnte der letzte Weckruf gewesen sein.
Wenn ausschließlich die FPÖ auf Missstände hinweist, ÖVP und SPÖ hingegen die Realität verleugnen, wird der Zustrom zu den Freiheitlichen nicht abebben.
Höchste Zeit, dass die Regierungsverhandler von ÖVP, SPÖ und NEOS die Alarmsignale hören und beantworten. Ein vages „Kein weiter wie bisher“ wird zu wenig sein, es braucht anderes Regieren – diesmal wirklich, nicht nur als plumpe PR-Show.
Ein wichtiger Schritt dazu: neue Ehrlichkeit. Die Wahrheit ist der Bevölkerung zumutbar. Mehr noch: Wenn ausschließlich die FPÖ auf Missstände hinweist und Probleme dabei gnadenlos größer macht und herausschreit, ÖVP und SPÖ hingegen in der Operation Schönreden die Realität verleugnen, wird der Zustrom zu den Freiheitlichen nicht abebben, im Gegenteil.
Jeder dreiste Versuch wie jener der ÖVP, Schwierigkeiten wie das wachsende Budgetdefizit bis zum Wahltag abzustreiten, erhöht nur die ohnehin ausgeprägte Verdrossenheit über die Regierenden. Oder hat man ernsthaft geglaubt, das p. t. Wahlvolk schluckt Milliardenlücken einfach?
Dasselbe gilt genauso für die Methode der SPÖ, in Wien nach dem Prinzip „Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen“ zu agieren: Mittlerweile können 45 Prozent der Erstklässler im Schmelztiegel Wien mangels Sprachkenntnissen dem Unterricht nicht folgen. Höchste Zeit, die Herausforderung offen anzusprechen und nach Lösungen zu suchen, bevor da eine „Lost Generation“ heranwächst.
Simples Ignorieren wird nicht reichen. Gefragt sind entschlossene Maßnahmen, reale Schwierigkeiten beherzt anzupacken. Im Bildungssystem. Oder im Gesundheitssystem, wo Schlangen vor Arztordinationen das Gefühl verstärken, mit Österreich gehe es bergab. Bei Teuerung und Arbeitskräftemangel.
Und bei der schwächelnden Wirtschaft, aus der sich schlechte Nachrichten häufen: Der deutsche Autozulieferer Schaeffler schließt sein Werk in Niederösterreich. Motorradhersteller KTM schlittert in ein Sanierungsverfahren. Die Möbelkette kika/Leiner ist pleite. Noch Fragen, warum Abstiegsängste grassieren? Gefragt sind Anstrengungen für niedrigere Energiepreise und für eine Digitalisierungsoffensive, Österreich ist bei der Anbindung an Gigabit-Netze EU-Nachzügler.
Nicht gefragt sind Beschwichtigungstextbausteine und die Pose des ÖVP-Wirtschaftsflügels, der wortreich hohe Arbeitskosten und Reformstau beklagt – und dafür allerhand Schuldige findet. Nur nicht die ÖVP, die seit 1987 durchgehend mitregiert und das Wirtschaftsministerium führt. Auf das billige Finger-auf-andere-Zeigen zu verzichten, auch das würde zur neuen Ehrlichkeit gehören.
Ja, das erfordert Mut und Kraftanstrengung der Anti-Kickl-Koalitionäre. Klingt anstrengend, ist es auch. Aber: Es ist die letzte Chance. Sonst kommt die nächste blaue Welle bestimmt.