Die Übersehenen: Privilegien und Klassismus
Wenn ich wie kürzlich in Grasse durch das dortige Parfümeriemuseum gehe und vom Körperkult der Griechen und Römer lese, die sich von Kopf bis Fuß mit duftenden Essenzen hätten salben lassen, dann weiß ich, es gab nicht nur die Gesalbten, sondern auch die Salbenden. Die Rollen waren nicht austauschbar. Für die Nachwelt existieren freilich nur die Gesalbten.
Wenn ich im Fernsehen wieder einmal wunderbare Gartenanlagen sehe, deren Existenz auf die Initiative deswegen hoch gerühmter Damen oder Herren der Gesellschaft zurückgeht, dann weiß ich, ich muss mir nicht vorstellen, dass die Damen oder Herren schwitzend mit einem Krampen in die Erde gehackt haben. Das haben sie andere erledigen lassen.
Wenn betagte honorige Herrschaften aus ihrem Leben erzählen, und es ist die Rede von ihren gastfreundlichen Elternhäusern, wo interessanten Persönlichkeiten ein kultivierter Rahmen für spannenden Gedankenaustausch geboten wurde, dann weiß ich, ich muss mir nicht ausmalen, wie ihre Mütter stundenlang in der Küche gestanden sind, um die Gäste kulinarisch zu verwöhnen, oder dass ihre Väter den Müttern gar beim Abziehen der Gästebetten an die Hand gingen.
Wenn ich wie unlängst lese, dass Frauen in Jordanien kaum berufstätig sind, obwohl viele von ihnen studiert haben, weswegen sie sich zu Hause langweilen, dann weiß ich, sie langweilen sich jedenfalls nicht beim Bügeln oder Putzen, weil die Hausarbeit in ihren Haushalten von weiblichem Personal verrichtet wird, das in der Statistik aber anscheinend nicht als berufstätig aufscheint, sonst wäre die offizielle Zahl berufstätiger Frauen höher.
Ich weiß es, ohne dass es mir gesagt wird, denn es wird nicht gesagt. Die Leistung der Namenlosen fällt unter den Tisch, und weil das so ist, bleiben sie namenlos.
Ich weiß, dass für das Zustandekommen der herrlichen Parks viele Menschen geschwitzt haben (und immer noch schwitzen), und ich weiß, dass die legendäre Gastfreundschaft weltoffener Elternhäuser den Einsatz zahlreicher williger Hilfskräfte voraussetzte. Aber von denen spricht niemand.
Es ist schon immer wieder erstaunlich, wie wenig große Bevölkerungsgruppen offiziell wahrgenommen wurden und werden. Ein Phänomen des Klassismus: Wir machen unsere Gesellschaftsbetrachtung am Status der privilegierten Klassen fest. Wir sagen: Im Europa des 19. Jahrhunderts hat man … Und beschreiben den Alltag einer begünstigten schmalen Schicht. Damals, sagen wir womöglich, damals mussten die Frauen nicht arbeiten, so, als wären die Dienstmädchen, Köchinnen und Kindermädchen, die die (groß-)bürgerlichen Haushalte samt den Salons der Hausfrauen am Laufen hielten, keine Frauen oder überhaupt nicht existent gewesen.
Der Mangel an Wahrnehmung erzeugt einen Mangel an Empathie. Mitgefühl gilt, wenn überhaupt, den Sichtbaren, nicht jedoch den Übersehenen. Sogar bei den Geflüchteten bedauern wir allenfalls die Degradierten, nicht aber diejenigen, die immer schon unten waren. Wer Wohlstand und Ansehen verloren hat, ist zumindest eine tragische Gestalt. Wer eh nichts zu verlieren hatte (außer sein Leben) und es hier vielleicht am Ende gar noch zu Wohlstand und Ansehen bringen will, macht sich unbeliebt.
Wenn eine putzen gehen muss, hinter der früher hergeputzt wurde, gilt das als unverdiente Härte. Aber ist es verdient und weniger hart, wenn eine putzt, die immer schon putzen musste?
Nach wie vor ist die Redewendung im Gebrauch, jemand käme aus einem guten Stall. Das heißt: Er oder sie hat eine privilegierte Erziehung genossen und von klein auf gelernt, Distinktionsgesten zu setzen. Verräterisch dabei ist das Herrenreitervokabular. Der gute Stall steht nicht nur für eine erstklassige Aufzucht, sondern auch für Zucht im Sinne genetischer Selektion. Klasse ist Rasse. Status wird vererbt. Die Angesehenen und Wohlhabenden bleiben unter sich.
Aber hey, die Masse der Übersehenen wird doch eh wahrgenommen! Jetzt zum Beispiel: Kein Zuverdienst für Arbeitslose! Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen! Das wird diskutiert, und es bedeutet, dass die Übersehenen auffällig geworden sind durch mangelnde Nützlichkeit. Von ihren Leistungen wird kein Aufhebens gemacht, von eventuellen Leistungsausfällen, unverschuldet oder nicht, schon. Ganz kurz, im ersten Lockdown, da ist so was wie eine Ahnung aufgekommen, wer unser Werkl am Laufen hält. Aber seither: alles wie ehedem.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht darum, Ideengeber:innen abzuwerten. Wir brauchen Menschen, die Projekte entwerfen, Ziele vorgeben und Vorhaben mit Blick aufs große Ganze vorantreiben. Es geht schon gar nicht darum, hoch qualifizierten Spezialist:innen und ihren Leistungen den Respekt zu verweigern. Sie alle sollen gewürdigt werden und werden es ja auch. Nicht gewürdigt wird jedoch die große Schar derer, die dafür sorgt, dass aus Ideen Realität wird. Das ist der Missstand, und gegen den gilt es vorzugehen.