Die Zorn-Wahl: Alarmstufe rot für Regierung
Der manchmal müde und streckenweise bizarre Bundespräsidentschafts-Wahlkampf schleppte sich ins Finale und endete mit dem erwartbaren Start-Ziel-Sieg des Amtsinhabers. Alexander Van der Bellen geht als Staatsoberhaupt in die Verlängerung, doch strahlende Sieger sehen anders aus: Sein maues Ergebnis passt zu seinem defensiven, schier lustlosen Wahlkampf, in dem sich niemand zu Begeisterung aufraffen konnte, am allerwenigsten Van der Bellen selbst. Wenig Wunder, dass das Ergebnis bleiern ausfiel, der Vergleich macht sicher: Auf honorige 79,3 Prozent kam Heinz Fischer bei seiner Wiederwahl im Jahr 2010, selbst der nicht unumstrittene Thomas Klestil, der bei seiner Wiederkandidatur 1998 gegen Frauen-Power antrat (Heide Schmidt und Gertraud Knoll), erreichte satte 63,4 Prozent.
Van der Bellen hingegen kam nur auf rund 55 Prozent. Dabei war er der erste Bundespräsident, der als mehr als ein Staatsnotar agierte und seine große in der Verfassung festgeschriebene Macht auch nutzte: Er suchte mit Brigitte Bierlein eine Bundeskanzlerin und mit ihr eine Regierung aus Expertinnen und Experten aus. Seither ist allen bewusst: Ein Bundespräsident ist doch mehr als ein Ersatzkaiser, man braucht das verstaubte Amt in Krisenzeiten durchaus, es macht einen Unterschied, wer Staatsoberhaupt ist. Dennoch wollten ihn alles andere als eine überwältigende Mehrheit weiter in der Hofburg sehen.
Die rund 55 Prozent für Van der Bellen sind nicht nur eine magere Bestätigung für einen Bundespräsidenten und die Rechnung dafür, dass er zu oft zu lange geschwiegen hat, vor allem zu den Korruptionsaffären. Sie stellen auch ein lautes Warnsignal für alle Parteien dar, allen voran für die Regierungsparteien ÖVP und Grüne. War doch die Hofburg-Wahl die erste bundesweite Wahl, seit die Innenpolitik nicht mehr aus Krisen und Ausnahmezuständen herauskommt: Corona-Pandemie. Lockdowns. Ukraine-Krieg. Teuerung. Energiekriese. Klimakatastrophe. Angereichert werden diese internationalen Erschütterungen durch heimische Abgründe: Serien an Korruptionsaffären, Implosion der ÖVP, Rücktritten von Kanzlern und Ministern.
Das Resultat dieser Gemengelage ist an Van der Bellens magerem Wahlergebnis abzulesen: Zorn. Protest gegen „die da oben“. Politikverdrossenheit. Nie waren Frustration und Wut derart weit verbreitet, nie war der Generalverdacht gegen die politische Klasse so tief verwurzelt, nie die Stimmung ähnlich explosiv. Das zeigte sich bei der Bundespräsidentenwahl: Es reichte, wenn Kandidaten gegen das so genannte „System“ anpolterten, schon damit konnten sie punkten. Mehr hatten sie auch teilweise nicht zu bieten. Aber allein mit dem Surfen auf der Protestwelle kamen der krawallige Gerald Grosz, der Anti-System-Mann Tassilo Wallentin, Corona-Zweifler Michael Brunner, Öko-Zausel Heinrich Staudinger und der Vertreter der außerparlamentarischen Opposition, Dominik Wlazny, auf über ein Viertel der Stimmen.
Das bedeutet Alarmstufe Rot für die Regierung: Umfragen zeigten schon bisher, dass das Vertrauen in die Koalitionsparteien ÖVP und Grüne sinkt und sinkt. Gemeinsam kommen die beiden gerade noch auf ein mageres Drittel an Zustimmung. So niedrig war das Vertrauen in eine Regierung noch nie. Bei der Bundespräsidentenwahl wurde das gesammelte Misstrauen nun in ein Ergebnis gepresst und zeigt: Die Proteststimmung hat Rekordausmaße erreicht, der Zorn ist enorm – und die Bundespräsidenten-Wahl wird beileibe nicht die letzte Zorn-Wahl bleiben.
Diese weit verbreitete Politik-Verdrossenheit trifft nicht nur die Regierung, sie sollte auch alle anderen Parteien beunruhigen: Die SPÖ, weil selbst der oft erstaunlich schmähstade Dominik Wlazny alias Marco Pogo zeigt, dass Sehnsucht nach anderer, linker Politik durchaus vorhanden ist. Gut möglich, dass Wlazny nach diesem Achtungserfolg bei der Nationalratswahl antritt. Und auch für die FPÖ bedeutet die Zorn-Wahl eine Lektion: Sie hat das Protest-Monopol verloren und ist nicht mehr die einzige Zorn-Sammelstelle im Land.
Van der Bellen bleibt Bundespräsident. Doch nach diesem Wahlabend ist klar: Die Politikverdrossenheit ist enorm.