Kommentar

Doch, die WM hat auch etwas Gutes

Der Staat Katar hat – wenig beachtete – Fortschritte gemacht.

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Wie gefällt Ihnen die WM bisher? Wer unbedarft diese Frage stellt, muss damit rechnen, die daraus resultierende Debatte hoch zu verlieren. Die Fußballweltmeisterschaft in Katar gilt bereits jetzt als die umstrittenste aller Zeiten, und wer sie nicht zumindest ignoriert, besser noch boykottiert, macht sich verdächtig, mit einem autoritären Regime zu sympathisieren.

Ich bin anderer Meinung, und nicht etwa deshalb, weil ich Menschenrechte weniger wichtig finde. Im Gegenteil. Katar war vor zwölf Jahren, als die Fifa die (auf korruptem Weg zustande gekommene) Entscheidung traf, dass die WM 2022 dort stattfinden soll, ein autoritärer Staat, in dem die Rechte von Arbeitern mit Füßen getreten wurden, und in dem diskriminierende Gesetze galten. Das ist er auch heute noch, allerdings nicht in demselben Maß.

Die britische Zeitschrift „Economist“ bewertet jedes Jahr den Grad der Demokratie aller Staaten, und Katar befindet sich immer noch auf der Stufe eines „autoritären Regimes“. Allerdings hat sich die Lage seit 2010 merklich verbessert. Lag der Wert 2010 bei 3,09 Punkten (Die Skala reicht von 0,00 bis 10, wobei 10 der beste Wert ist), erreichte Katar im vergangenen Jahr 3,65 Punkte – das bedeutet in diesem Ranking einen durchaus beachtlichen Sprung. Zum Vergleich: Ägypten, wo kürzlich die Klimakonferenz COP27 stattfand, rutschte im selben Zeitraum von 3,07 auf 2,93 Punkte ab. China, wo heuer die Olympischen Spiele ausgetragen wurden, sank von 3,04 auf 2,21 Punkte.

Hat das etwas mit der Fußballweltmeisterschaft zu tun? Die Vermutung liegt nahe, und sie lässt sich auch belegen.

Katar ist eine konstitutionelle Erbmonarchie, gemäß Verfassung herrscht die Familie Al Thani, das Amt des Emirs geht jeweils vom Vater auf einen Sohn über. Die Verfassung von 2003 sieht Wahlen vor, bei denen alle fünf Jahre 30 (von insgesamt 45) Mitglieder einer ratgebenden Versammlung gewählt werden – die übrigen 15 bestimmt der Emir selbst. Dieser zaghafte erste Schritt in Richtung Demokratie wurde jedoch immer wieder verschoben, erst im Oktober des vergangenen Jahres – ein Jahr vor der WM – durften die Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Dabei waren viele Kataris aufgrund eines rigiden Staatsbürgerschaftsgesetzes von der Wahl ausgeschlossen, doch nach Protesten soll dies beim nächsten Mal anders sein. Auch Frauen durften für den Rat kandidieren, allerdings wurde am Ende keine einzige gewählt.

 

All das kann man nicht gerade als grenzenlose Demokratisierung feiern, aber es sind Schritte in die richtige Richtung.

Auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, urteilt positiv über die Weltmeisterschaft in Katar. Diese habe „die Einführung von weitreichenden Reformen im Arbeitsrecht beschleunigt“. Nach jahrelangem Streit hatte Katar eingewilligt, gemeinsam mit der ILO die Bedingungen, unter denen migrantische Arbeiter in Katar leben und arbeiten, neu zu regeln. Bis dahin wurden Arbeiter behandelt wie Sklaven, und unter ihnen wurden in den Jahren 2010 bis 2020 nach einem Bericht des „Guardian“ nicht weniger als 6500 meist ungeklärte Todesfälle gezählt.

Die ILO listet mehrere Bereiche auf, in denen sie seither Fortschritte sieht: Die Möglichkeit zum Jobwechsel (die es davor so gut wie gar nicht gab); die Einführung eines Mindestlohns; Zugang zur Justiz; Zugleich merkt die ILO an, woran es noch mangelt, doch ihr Fazit ist eindeutig: Insgesamt habe die Zusammenarbeit dank der WM Fortschritte gebracht.

Das ändert nichts daran, dass in Katar weiterhin Frauen benachteiligt werden und Homosexualität verboten ist – sowie generell außerehelicher Geschlechtsverkehr - und dass Katar weiterhin ein autoritär regierter Staat bleibt. Doch das Emirat bewegt sich, langsam aber doch aus der Finsternis. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schreibt: „Als Ergebnis der Berichterstattung hat Katar bereits wichtige Schritte für einen besseren Schutz der Arbeiter:innen gesetzt – wichtige Schritte, die aber offensichtlich nur ein erster Anfang sein können.“ Und Amnesty fordert weitere Anstrengungen Katars und der Fifa, rief aber nicht zum Boykott auf.

Tatsächlich ist die Fußballweltmeisterschaft ein Beweis dafür, dass internationale Öffentlichkeit und intensive Kontakte einen positiven Einfluss haben können. Vergangenen Sonntag startete zum allerersten Mal eine Passagiermaschine vom Ben-Gurion-Flughafen in Tel-Aviv (Israel) zu einem Direktflug nach Doha, der Hauptstadt von Katar. Auf den Tickets stand „making history“ (Geschichte schreiben) in englischer, hebräischer und arabischer Sprache, daneben waren die israelische und die katarische Flagge abgebildet. Israel und Katar unterhalten keine diplomatischen Beziehungen miteinander, die Übereinkunft, Direktflüge zu gestatten, war das Ergebnis monatelanger Verhandlungen.

Das ist wohl nur ein Detail der Geschichte, zugegeben. Doch die internationale Kritik hat Katar gutgetan. Die Aufmerksamkeit einer sensibilisierten Öffentlichkeit bewirkt Veränderungen. Das sollte man anerkennen.

1978, als die WM in der damaligen Militärdiktatur Argentinien stattfand, ließ die Wachsamkeit des Auslands in bezug auf das Gastgeberland noch sehr zu wünschen übrig. Damals lautete der Text des offiziellen WM-Liedes von Udo Jürgens und der Deutschen Nationalmannschaft: „Buenos Dias, Argentina! Guten Tag, du fremdes Land! Buenos Dias, Argentina! Komm, wir reichen uns die Hand!“

Heute erleben wir in Katar die umstrittenste, und deshalb wohl auch politisch folgenreichste WM. Und so kann man auf die Frage „Wie gefällt ihnen diese WM bisher?“ auch antworten: Vergleichsweise ganz gut.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur