Kolumne

Dunning und Kruger, digital

Kompetenz in künstlicher Intelligenz ist Mangelware. Deshalb hat die Technologie auch so viele begeisterte Fans.

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Ich muss mich gleich zu Beginn dieser Kolumne entschuldigen: Ich muss schon wieder über den Dunning-Kruger-Effekt schreiben. Sie wissen schon, diese „kognitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen“, wie die Wikipedia so richtig schreibt. Ich muss das öfter machen, mir bleibt nichts anderes übrig. Die Zeiten sind danach.

Benannt worden ist der Effekt nach den amerikanischen Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger. Sie haben eine Alltagserfahrung unserer Zeit auf den wissenschaftlichen Punkt gebracht: Je weniger Ahnung die Leute von etwas haben, desto mehr Meinung produzieren sie dazu. Das ändert an der Begeisterung der Leute für den Unsinn, den sie reden, nichts.

Um nämlich etwas richtig einordnen zu können, muss man eine gewisse Ahnung von dem haben, was man einordnet. Wenn man gar nichts weiß oder das Wissen aus lauter gefährlichem Halbwissen besteht, dann wird das mit der Kompetenz nichts. Anders: Wenn die natürliche Intelligenz fehlt, dann kann die schönste künstliche Intelligenz das nicht ausbügeln. Hochentwickelte Technologie fällt auf unfruchtbaren Boden.

Grade ist künstliche Intelligenz angesagt, und der digitale Dunning und Kruger feiert Triumphe. Die größte Begeisterung und den unbekümmertsten Einsatz künstlicher Intelligenz erleben wir bei Leuten mit eher unterdurchschnittlichen Begabungen.

Es sind die, die über keine besonderen Talente verfügen und nur das wirklich entwickelt haben. Es sind die Leute, denen die Werbung, das Marketing und praktisch alle politischen Parteien ungeachtet aller Fakten immer erzählt haben, sie wären nicht nur auch wichtig, sondern ebenso klug, kreativ und hätten das gleiche Recht, bewundert und geliebt zu werden wie Rockstars, Nobelpreisträger und Bundeskanzler m/w/d.

Es sind die aus populistischem Kalkül Abgeholten, Mitgenommenen, Teilhabenden, denen man ein X für ein U vorgemacht hat. Damit verdoppelten Gauner im alten Rom ihre Preise: Das U ist eigentlich ein V, die römische Ziffer Fünf also, und das X eine Zehn. Wenn man ein V mit zwei Strichen nach unten verlängert, hat man aus fünf zehn gemacht. Aus einem IQ von 50 einen 100er, nur mal zum Beispiel.

Die Leute hören es gern, wenn man sie klug und intelligent nennt, das weiß jeder Trickbetrüger, der das den Leuten so lange einredet, bis sie ihm ihr Erspartes überlassen. So funktioniert das jetzt auch bei der KI. Da „können“ Leute plötzlich Texte „schreiben“ und Bilder „malen“, sie „planen“ und „entwickeln“ in eindrucksvoll durchschnittlicher Sprache „Konzepte“ und „Ideen“, sie sind „kreativ“. Die Technologie suggeriert Teilhabe in bisher unbekanntem Maß: „Du kannst das auch!“ Eigenleistung, Können, Talent, Anstrengung, Leistung, ja, und Hirn, wenn’s recht ist – all das braucht man nicht mehr. Mit der KI kann man, was man nicht kann, weiß man, was man nicht weiß, und begeistert sich an Ergebnissen, die keine sind.

Na und, sagen Leute, die auch nicht weit von Dunning und Kruger wohnen, das war doch immer so! Früher mussten menschliche und tierische Muskeln anpacken, um schwere Arbeit zu machen, heute machen das Maschinen! Ja, nur eben, dass man, um diese Maschinen zu bauen und zu nutzen, wissen muss, wie sie funktionieren, einzusetzen sind, anzuwenden. Die bisherige Automatisierung erforderte Mitwirkung. Leute wie der Apple-Gründer Steve Jobs definierten damit sogar die Digitalisierung selbst: Die müsse einfach zugänglich sein, damit die damit gesparte Energie in kreatives, eigenes Nachdenken fließen könne. Weniger körperliche Anstrengung bedarf mehr geistiger Arbeit.

Dieses Prinzip scheint aufgehoben zu sein. Mühelos konsumierend können scheinbar alle alles, immer und jederzeit. Kontextkompetenz, also das Wissen um Zusammenhänge zwischen der Technik und der eigenen Arbeit, das ist nicht mehr nötig. Wirklich?

Nein, es ist natürlich Selbstbetrug. Die Texte sind fehlerhaft oder von anderen geklaut, aber um Fehler oder Diebstahl zu erkennen, muss man erst mal wissen, dass beide überhaupt da sind. Das können die Dunning und Krugers nicht. Aber sie wollen was sein. Das hat ihnen eine gnadenlose Aufmerksamkeitsökonomie so lange eingetrichtert, dass sie es nicht mehr vergessen können. Aber sie wissen nicht, was sie tun. „Die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um eine richtige Antwort zu geben, sind genau die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um zu erkennen, was eine richtige Antwort ist“, hat David Dunning das Problem beschrieben. Das ist ungefähr das, was Dieter Bohlen einmal so formulierte: „Erklär einem Idioten einmal, dass er ein Idiot ist.“

Stimmt. Das ist schwierig, in jeder Hinsicht. Aber dringend nötig. Auch wenn man damit keine Wahlen gewinnt, keine Begeisterung auslöst und überdies keine teure Hardware verticken kann, die man für die tolle KI braucht. Es ist nur wegen – man schämt sich schon fast, es zu sagen – der Ehrlichkeit, der Wirklichkeit.

Und weil von nichts nichts kommt, wie wir wissen.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.