Ein Kanzler Kickl wird realer
Eine ganz normale Krawallwoche der FPÖ: Der Kärntner Parteichef Erwin Angerer hält Kindergärten für „kommunistische Umerziehungslager“ und will die SPÖ-Gesundheitslandesrätin „im Landtag herprügeln“. Sein Kollege in Oberösterreich, Landeshauptmann-Vize Manfred Haimbuchner, der in der FPÖ als Gemäßigter gilt, kündigt an, unter FPÖ-Kanzlerschaft „Islamisten und Journalisten das Benehmen zu lehren“. In Niederösterreich droht der Sprecher von Landeshauptfrau-Vize Udo Landbauer dem Kabarettisten Florian Scheuba: „2024 werden Sie nur mehr beim AMS auftreten.“ Und Parteichef Herbert Kickl lässt seine Fans Messer und Scheren zu seiner „Heimattour“ bringen, damit sie dort scharf geschliffen werden, und ruft von der Bühne zum „Zerschnippeln von Zeitungen“ auf.
Kurz: eine Woche voller Untergriffe, Attacken gegen Künstler und Medien, Rülpser und Rabiatansagen. Die Eskalationsspirale dreht sich derart schnell, dass sich sogar die Empörung über die wachsende Radikalität in Blau in überschaubaren Grenzen hält. Die FPÖ sieht offenbar keinerlei Anlass mehr, sich zurückhaltend oder gar staatsmännisch zu geben. Alle Hemmungen fallen, sie ist schon jetzt, zehn Monate vor der Nationalratswahl, im Siegestaumel und Machtrausch. Und rülpst unverhohlen heraus, was von einer Kanzlerschaft von FPÖ-Oberrabauken Herbert Kickl zu erwarten wäre.
Die FPÖ ist schon jetzt, zehn Monate vor der Wahl, im Siegestaumel.
Es scheint wenige zu stören. Die Wählerschaft der FPÖ verzieh ihrer Partei immer erstaunlich viel erstaunlich schnell: Ibiza-Paukenschlag. Spesenaffären. Extrem rechte Auftritte. Dilettantismus in der Regierung. Irrlichtern zwischen Moskau und Kabul. Internen Zank. Verschwörungstheorien und anderen hanebüchenen Unsinn. Korruptionsvorwürfe und den Verdacht veruntreuter Klubgelder, aktuell in Graz. Also eine ganze Serie von Skandalen, die bei anderen Parteien für jahrelange Wahlniederlagen reichen würden.
Bei der FPÖ nicht. Vor einem Jahr, im Dezember 2022, kletterte sie in der profil-Umfrage (wie in anderen Umfragen) auf Platz 1 und hat sich seither dort nicht mehr wegbewegt. Der Abstand zu SPÖ und ÖVP beträgt mittlerweile satte zehn Prozentpunkte, das blaue Hoch ist seit einem Jahr stabil, die politische Konkurrenz kann es längst nicht mehr als Momentaufnahme abtun, die von selbst und bald vorbei sein wird. Auch die verbreitete Beschwichtigungstaktik zieht nicht mehr, dass Kickl viel zu unbeliebt sei, um gewählt zu werden: Einen Sympathiewettbewerb würde der FPÖ-Chef zwar nicht gewinnen – dennoch liegt er nun auch in der Kanzlerfrage auf der Poleposition.
Ein Kanzler Kickl, das galt über Monate als eine Art Schreckgespenst, das zwar mit gruseliger Angstlust herbeigeredet, aber dennoch als total unrealistisch eingestuft wurde. Die Zeit ist vorbei. Ein Kanzler Kickl wird langsam realer. Trotzdem herrscht eine seltsame Apathie darüber im Land, eine merkwürdige Vogel-Strauß-Nicht-Politik. Wo bleibt das entschlossene Aufbäumen der demokratischen Kräfte? Es findet nicht statt – vor allem nicht in den ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ, die ungesteuert vor sich hin schwächeln.
Kanzler Karl Nehammer konnte keinen Kanzlerbonus entwickeln, dafür fehlt ihm Format und Fortune. Unter ihm schwankt die ÖVP unentschieden zwischen seriöser Klartext-Politik zu Israel und Firlefanz-Ideen wie Bargeld in der Verfassung. Eine substanzhaltige Linie oder gar ein prinzipieller Plan, wohin sich Österreich entwickeln soll, ist nicht einmal in Konturen erkennbar. Selbst für das verbleibende knappe Jahr an der Spitze der ÖVP-Grünen-Regierung fehlen Leuchtturmprojekte, für die die ÖVP brennt. Denn die technokratische Floskel „wir arbeiten das Regierungsprogramm ab“ wird die Wählerschaft nicht elektrisieren.
Der zweiten traditionellen Staatspartei, der SPÖ, geht es nicht besser. Die Anfangseuphorie um den neuen Parteichef Andreas Babler ist verpufft, nun dominiert wieder das übliche Gesudere. Nach dem Sekundentriumph folgt der Katzenjammer in einer heillos zerstrittenen Partei, die sich gegenseitig zerfleischt und weder in der Wirtschafts- noch in der Migrationspolitik zu einer einheitlichen Linie findet. Rote Granden wie Wiens Michael Ludwig lassen Babler allein wurschteln, kein Wunder, dass die groß angekündigte „Mission Kanzleramt“ nicht vom Fleck kommt. Bleiben die Grünen, die sich nun aber blamieren, keinen Spitzenkandidaten für die EU-Wahl finden und ihren Bundeskongress verschieben müssen. Und bei den NEOS kämpft Parteichefin Beate Meinl-Reisinger mit Comeback-Wünschen der Alphamänner Sepp Schellhorn und Matthias Strolz.
Angesichts dieses geballten Schwächelns der politischen Konkurrenz kann sich Kickl getrost zurücklehnen und abwarten.
In ihrer anschwellenden Verzweiflung verlegen sich die anderen Parteien auf das Prinzip Hoffnung: Die FPÖ werde schon noch straucheln oder Kickl in die zweite Reihe verräumen. Beides scheint mehr als unwahrscheinlich: Kickl sitzt als Parteichef fest im Sattel, mit jedem Wahl- und Umfrageerfolg wird er weiter einzementiert. Und: Bei wankelmütigen Vorgängern wie dem Borderliner Jörg Haider oder dem Partymann Heinz-Christian Strache waren selbstzerstörerische Exzesse jederzeit möglich. Kickl ist deutlich disziplinierter. Auf einen Selbstfaller zu spekulieren, könnte sich als trügerische Hoffnung erweisen.
Bis zur nächsten Nationalratswahl sind planmäßig knapp zehn Monate Zeit. Es wäre Zeit für einen ernsthaften Plan.