Meinung

Einer gegen alle

Ungarn droht Brüssel mit einem Veto zur Ukrainepolitik. Der Erpressungs- versuch zeigt: Die EU braucht dringend Reformen.

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Wenn Viktor Orbán Briefe nach Brüssel schickt, steht selten etwas Erfreuliches drin. Vergangene Woche schrieb Ungarns Regierungschef an Ratspräsident Charles Michel um ihm mitzuteilen, dass er plane, die Ukraine-Hilfen zu blockieren, sollte die EU ihre Politik im russischen Angriffskrieg und die Sanktionen gegen Moskau nicht überdenken.

Konkret geht es um Milliarden an Unterstützung für Kiew und die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen, beides wollte eine Mehrheit der Mitgliedstaaten beim Gipfel Mitte Dezember beschließen. Doch das ist nur möglich, wenn kein Regierungschef ein Veto einlegt.

In seinem Brief stellt Orbán wichtige Fragen, räumen selbst Diplomaten ein. Tatsächlich würde es wohl nicht schaden, wenn die EU ihre Ukraine-Politik einer ehrlichen Analyse unterzieht. Doch Orbán geht es um etwas ganz anderes. Weil seine nationalistische Regierung rechtsstaatliche Kriterien nicht einhält, hat Brüssel 13 Milliarden Euro an Hilfen für Ungarn eingefroren. Diese Gelder will Orbán nun freipressen.

Deswegen suchen einige Mitgliedstaaten nun verzweifelt nach Möglichkeiten, wie die EU-Gelder die Ukraine auch ohne die Unterstützung Budapests erreichen können. Eine Option wäre, bilateral Finanzhilfen nach Kiew zu schicken. Doch was die Beitrittsverhandlungen betrifft, können die Mitgliedstaaten nicht ohne Ungarn voranschreiten. Und die vielgelobte europäische Solidarität, ein deutliches Signal an Russland und die USA, wäre mit dem bilateralen Weg auch dahin.

Die Ideen, wie man Budapest umgehen kann, sind ein Akt der Verzweiflung – und es ist nicht der erste. Orbán trifft sich mit Präsident Wladimir Putin, wettert gegen die Sanktionen und arbeitet daran, mitten in der EU russische Verhältnisse zu schaffen. In den vergangenen Jahren hat er sein Land in einen illiberalen Staat umgebaut. Das Europaparlament nennt Ungarn eine „elektorale Autokratie“. Um uneingeschränkt an der Macht zu bleiben, hat Orbán das Wahlrecht zugunsten seiner Partei geändert. Er hat die Pressefreiheit eingeschränkt und die Justiz von unliebsamen Richtern gesäubert. In Ungarn ist Orbáns Partei, die rechtsnationale Fidesz, allgegenwärtig. Die wichtigsten Institutionen und Wirtschaftszweige, darunter Medien, Banken und Bauindustrie, sind längst unter Orbáns Kontrolle. Ungarn gilt als korruptestes Land der EU, der Demokratieabbau ist weit fortgeschritten.

Die EU hat dabei lange zugeschaut. Sie hat gemahnt und geklagt, viel gebracht hat es nicht. Seit Anfang 2021 hat Brüssel ein Werkzeug, das es erlaubt, EU-Fördermittel an Staaten zurückzuhalten, wenn die Gelder nicht zweckmäßig verwendet werden. Mit dem sogenannten Konditionalitätsmechanismus hat Brüssel 13 Milliarden Euro an Hilfen für Ungarn eingefroren. Das ist genug, um Orbán weh zu tun. Deswegen geht er jetzt dagegen vor.

Im Kampf gegen Demokratieabbau in den Mitgliedstaaten fehlen der EU hingegen die Mittel. Zum Schutz der Grundwerte gibt es das sogenannte Artikel-7-Verfahren. Mit der „nuklearen Option“ können Länder, die gegen die Grundwerte der EU verstoßen, sanktioniert werden und im schlimmsten Fall ihr Stimmrecht verlieren – zumindest theoretisch.

In der Praxis ist es noch nie so weit gekommen.

Zwar hat das Europaparlament schon 2018 für ein solches Verfahren gegen Ungarn gestimmt, aber seither hängt der Prozess im Europäischen Rat fest, der einstimmig dafür sein muss. Und Ungarn und Polen deckten sich bisher gegenseitig.

Die EU droht, sich selbst zu blockieren. Große Fragen bleiben ungelöst.

Es ist ein altes Problem, das die EU zu zerreißen droht. Länder, die der Union beitreten wollen, müssen zahlreiche Bedingungen erfüllen, der Rechtsstaat muss funktionieren. Doch Brüssel fehlen die Mittel gegen jene vorzugehen, die bereits Teil der EU sind.

Das kann angesichts der geplanten Erweiterung um – langfristig – neun Mitgliedstaaten nicht so bleiben. Länder wie die Ukraine, Albanien und Bosnien Herzegowina haben ein massives Korruptionsproblem. Wer garantiert, dass diese Staaten ihre Demokratien nach einem Betritt nicht wieder abbauen oder auf EU-Ebene wichtige Entscheidungen blockieren, um Zugeständnisse zu erpressen?

Die Antwort ist: Niemand, und deswegen muss sich die EU reformieren. Denkbar ist etwa eine Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips, wie sie Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker vorschlägt und das Europaparlament fordert: Bei Fragen über Steuern oder Verteidigung müssten nach wie vor alle Mitgliedstaaten zustimmen, doch sollten mehr Entscheidungen, gerade in der Außenpolitik, mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden können. Auf diese Weise hätte Orbán keine Möglichkeit mehr, die Finanzhilfen für die Ukraine zu stoppen.

Experten wie der Europarechtler Walter Obwexer fordern außerdem Mechanismen zur Durchsetzung der Grundwerte der EU. Beim Artikel-7-Verfahren, dem bisher alle Mitgliedstaaten zustimmen müssen, schlägt er den Wechsel zu einer Vier-Fünftel-Mehrheit vor. So könnte Brüssel gegen Mitgliedstaaten vorgehen, die ihre Demokratien abbauen.

Vor den Europawahlen im Juni muss über Vorschläge wie diese zumindest ehrlich debattiert werden. Sonst droht die EU, sich selbst zu blockieren, große Fragen blieben ungelöst.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.