Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Alte Kracher

Alte Kracher

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Die alte Tante und ihr junger Neffe trinken miteinander Kaffee.
Neffe: Hier steht’s. In der Zeitung.1 „Die Kosten des Gesundheitssystems explodieren, weil immer ältere Menschen einer ­immer teureren medizinischen Versorgung bedürfen.“
Tante: Ach ja. Die Alten sind schuld.
Neffe: Genau.
Tante: Weil sie nicht rechtzeitig sterben.
Neffe: Na ja … Ja.
Tante: Ist das bewiesen, dass die Kosten deswegen explodieren?
Neffe: Das weiß man.
Tante: Woher?
Neffe: Ich nehme an, dafür gibt es Statistiken.
Tante: Kennst du sie?
Neffe: Nein.
Tante: Kennt sie der Zeitungsmensch?
Neffe: Das weiß ich nicht.
Tante: Ich hab meine Krankenkassa bis jetzt fast nix gekostet.
Neffe: Brav.
Tante: Nein. Das ist keine Leistung. Das ist ein Glück.
Neffe: Aber es gibt eben andere alte Menschen –
Tante: Es gibt auch junge Menschen, die krank werden. Oder Unfälle bauen. Zum Beispiel, weil sie viel zu schnell Auto fahren. Oder eine Skipiste runterrasen.
Neffe: Mein Gott! Das ist der Sinn eines solidarischen Versicherungssystems, dass alle einzahlen, und nur die, die es brauchen, kriegen was heraus.
Tante: Na geh. Übrigens war ich auch noch nie auf Kur.
Neffe: Du würdest gar keine bewilligt kriegen. In deinem Alter. Das ist was für Leistungsträger. Damit sie weiterarbeiten können. Für euch.
Tante: Ich war auch nicht auf Kur, als ich jünger war.
Neffe: Selber schuld. Ich schon.
Tante: Warst du krank?
Neffe: Nein. Nicht krank. Eine Kur soll ja verhindern, dass es so weit kommt. Ich war abgeschlagen.
Tante: Der Kurbetrieb lebt von relativ jungen, relativ gesunden Menschen, die abgeschlagen sind? Und die Krankenkassen sponsern ihn?
Neffe: Das ist eine Investition in Präventivmaßnahmen.
Tante: Ah ja. Wenn aber die Alten dann sowieso die Kosten zum Explodieren bringen? Oder gilt das nur für meine Generation?
Neffe: Kann sein. Vielleicht habt ihr zu wenig auf eure Gesundheit geachtet.
Tante: Vielleicht, aber dadurch haben wir Geld für Kuren eingespart. Dürfen wir die jetzt nicht verjuxen? Zum Beispiel, ­indem wir uns künstliche Hüften zulegen?
Neffe: Tante! Bitte! Tatsache ist, dass die Überalterung unserer Gesellschaft ein Problem ist. Ihr sprengt nicht nur die Kranken-, sondern auch die Pensionskassen.
Tante: Weil wir maßlos und gierig sind.
Neffe: Nicht meine Worte –
Tante: Ich weiß. Aber deine Meinung.
Neffe: Also provozierend ist das schon. Alle diese braun gegerbten Oldies an ihren Luxuspools, während die Generation Praktikum nicht weiß, wovon sie leben soll.
Tante: Ich denke, die lebt von den Großeltern?
Neffe: Nicht zynisch sein. Wie soll denn eine Mindestrentnerin ihren Enkel erhalten?
Tante: Na, hör einmal, wenn sich die Alten Luxuspools leisten können, wird doch so ein Enkel kostenmäßig irgendwie mitlaufen. Obwohl es mich wundert, wie die Alten das schaffen, einerseits braun gegerbt am Pool und gleichzeitig im Spital, um ­unser Gesundheitssystem zu ruinieren.
Neffe: Tante! Bitte! Du kannst doch nicht alle Alten in einen Topf werfen!
Tante: Nein? Na geh.
Neffe: Trotzdem. Hast du schon einmal überlegt, wie privilegiert du warst? Dein ganzes Leben? Du hast gleich nach der Schule einen Job gekriegt, du warst nie arbeitslos –
Tante: Ich bin gleich nach der Schule arbeiten gegangen, weil meine Eltern gesagt haben, länger können sie mich nicht erhalten. Sie haben schon das Schulgeld fürs Gymnasium schwer aufgebracht.
Neffe: Warum haben sie dich nicht auf eine öffentliche Schule geschickt?
Tante: Ich war auf einer öffentlichen Schule. Öffentliche höhere Schulen haben damals Schulgeld gekostet.
Neffe: Bist du sicher?
Tante: Ganz sicher. Was denkst du denn? Ich erinnere mich ­genau. An alles. Meine erste Banane hab ich mit vier gegessen. Zum ersten Mal ins Ausland gefahren bin ich mit achtzehn. Nach Jesolo. Meine ganze Garderobe als Schulmädchen bestand aus zwei Faltenröcken, drei Blusen und einem Paar Schuhe. Das waren hässliche Treter, sie sollten ja haltbar sein. Mein Highlight am Wochenende war ein Kinobesuch, das Geld dafür hab ich mir durch Nachhilfestunden verdient. Und ich musste um zehn zu Hause sein. Kannst du dir das vorstellen? Keine Disconächte, keine Sprachferien auf Malta, keine coolen Klamotten, kein Führerschein mit siebzehn, kein Auto nach der Matura, kein Auslandssemester in Barcelona –
Neffe: Bist du neidisch, weil die Jungen heutzutage weniger trübselig leben?
Tante: Wieso, ich bin doch beneidenswert. Sagst du.
Neffe: Also, die Tante meiner Freundin ist so alt wie du. Die hat uns erzählt, wie toll es in den Sechzigern an der Côte d’Azur war. Da war sie nämlich immer im Sommer, mit ihren Eltern. Wieso hören sich Jugenderinnerungen bei der ganz anders an?
Tante: Vielleicht, weil es immer schon Arme und Reiche gegeben hat?
Neffe: Na komm, das ist eine Binsenweisheit.
Tante: Ja, gell? Man kann nicht alle über einen Kamm scheren: Binsenweisheit. Und trotzdem ständig diese Pauschalurteile.
Neffe: Die Lage ist eben ernst! Wir brauchen Sündenböcke!
Tante: Und dann?
Neffe: Man wird sehen. Was man halt mit Sündenböcken so macht.

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