Elfriede Hammerl Angst vor Mathe
Horror-Erinnerungen an die Schule sind häufig Horror-Erinnerungen an Mathematik. Was für ein Fach! Grusel und Grauen! Es gehasst zu haben, gehört fast zum guten Ton. Aber das tut der Mathematik bitter Unrecht. Ehrlich. Ich weiß, wovon ich schreibe. Sie war mein Problemfach. Und sie war eins meiner Lieblingsfächer. Mit elf war ich wegen Mathe aufstiegsgefährdet. Bei der Matura bekam ich in meinem Wahlfach Mathe ein Sehr gut.
Ich bin kein mathematisches Talent, schon gar kein rechnerisches. Aber ich bin, denke ich, ein logisches Talent. Dort, wo Mathematik vor allem (philosophische) Logik ist, wurde sie für mich vergnüglich. Das kam jedoch nicht von allein.
Meine Mathelehrerin in den beiden ersten Gymnasialklassen war kurz angebunden, sie erklärte knapp, schnell, ungeduldig. Wer sofort mitkam, wurde mit Wohlwollen behandelt. Wer mehr Erklärungsschritte gebraucht hätte, wurde angeschrieen. Ausleseverfahren. Weg mit den Unbegabten.
Die Schule, in die ich damals ging, war eine mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Vielen meiner MitschülerInnen genügten die kurzen, knappen Anweisungen. Sie sahen eine Aufgabe vor sich und ihr Hirn rechnete quasi automatisch los. Sie dachten in Rechenschritten ohne Verbalisierungsbedarf. (Dieser Hang zum Wortkargen wirkte sich in anderen Fächern durchaus ungünstig aus.) Sprachbedürftige wie ich waren verachtenswert. Das wurde uns jedenfalls von unserer Lehrerin signalisiert.
In der dritten Klasse übersiedelte ich in eine Schule mit sprachlichem Schwerpunkt. Auch meine Mathelehrerin dort ging nicht schonungsvoll mit uns um. "Greif mich an, wie kalt mich das lasst!", sagte sie gern, sobald man um Nachsicht und Schonung winselte.
Aber sie konnte erklären. Und ihre Erklärungen machten aus der Mathematik einen spannenden Denksport. Mathe wurde, für mich jedenfalls, zu einer fantastischen Welt, in der man Grenzen überschreiten, Allmachtvorstellungen erproben, Denkräume erweitern konnte. Schneiden sich Parallelen im Unendlichen? Interessante Frage. Ist schließlich noch niemand zwei Parallelen ins Unendliche gefolgt und hat beobachtet, was sie dort tun. Dass man mit einer solchen Möglichkeit dennoch rechnen kann, dass quasi Gedankenkraft ein Universum gestaltet, das war mir eine faszinierende Botschaft.
Ich habe mich weiterhin verrechnet, aber ich habe angefangen, Mathematik zu mögen. Und weil die neue Lehrerin im Gegensatz zur vorherigen großen Wert darauf legte, dass man Rechenschritte auch verbal zu begründen vermochte (nachdem sie selber ausführlich erläutert hatte, worauf es ankam), stieg ich plötzlich zur guten Mathematikerin auf.
Nicht so fein heraus waren diesfalls Mitschülerinnen, die Aufgaben zwar blitzschnell lösen, danach aber nicht mehr sagen konnten, weshalb sie wie vorgegangen waren. "Ein intelligenter Mensch muss erklären können, warum er was macht!", sagte unsere Lehrerin. "Deshalb: Nicht genügend." War brutal. Genauso wie die "Friss, Vogel, oder stirb!"- Methode ihrer Vorgängerin. Ich breite diese persönlichen Erfahrungen hier aus, weil sie, meine ich, gut illustrieren, wie individuell die Faktoren sind, von denen schulische Erfolge und Misserfolge abhängen. Bleiben wir bei der Mathematik: Man müsse, lese und höre ich immer wieder, das Schulfach anwendungsorientierter gestalten, Kinder wollten sich nicht mit abstrakten Fragestellungen herumschlagen, sondern Berechnungen anstellen, die einen praktischen Nutzen hätten. Für mich eine Schreckensvorstellung. Zinseszinsen. Nutzlast. Zylindervolumen. Keine Reizworte, die mich scharf auf den Unterricht machen würden.
Es gibt eben kein Patentrezept. Kinder haben, wir wissen es, unterschiedliche Begabungen, Interessen und Temperamente. Was den einen entgegenkommt, schreckt die anderen ab, deswegen ist es nicht so leicht, jedes Kind maßgeschneidert zu fördern. Trotzdem muss das der Grundgedanke jeder Schulreform sein: dass es gilt, Kinder individuell wahrzunehmen, und dass in jedem Kind Fähigkeiten stecken, deren Entwicklung möglich und lohnend ist.
Entgegen anderslautenden Behauptungen ist frühes Auseinanderdividieren in höhere und weniger hohe Schüler-Innen keine probate Methode der individuellen Wahrnehmung. Und entgegen anderslautenden Behauptungen ist das Konzept der gemeinsamen Schule für Zehn-bis 15-Jährige kein nivellierendes, sondern eines, das Kinder mit Rücksicht auf ihre individuellen Stärken und Schwächen fördern und fordern will. Wir müssen unser differenziertes Schulsystem erhalten, sagen die Gymnasiumsbefürworter gern. Aber: falsch. Wir müssen erst eines kriegen, das sich nicht mit einer groben Sortierung der Kinder nach mehr oder weniger hoch gesteckten Schulzielen begnügt. Die praktische Umsetzung ist sicher nicht einfach, und eine Schmeichelschule, in der Kinder vor jedem Frust bewahrt werden, kann es nicht geben. (Muss es auch nicht.) Aber es sollte wesentlich mehr Freude als Frust herrschen in der Schule. Greif mich an, wie kalt mich das lasst! ist eine witzige Antwort auf faule Ausreden. Als Haltung denen gegenüber, die gerade Unterstützung brauchen, ist sie ein Jammer.