Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Bodensatz

Bodensatz

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Alle, die etwas davon verstehen, haben davor gewarnt. Alle, die sich auskennen, haben desaströse Folgen vorhergesagt. Die Warnungen wurden in den Wind geschlagen, das Desaster ist eingetreten. Seit der Abschaffung des Jugendgerichtshofs haben Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, noch weniger Chancen auf Resozialiserung als zuvor. Stattdessen kriegen sie eine brutale Ausbildung im Faustrecht. Wie kommt es, dass Expertinnen und Experten sich einig sind über die Unsinnigkeit eines Vorhabens, und die Politik schert sich einen Dreck darum?

Es kommt in diesem Fall von einer kalten Arroganz, die zwischen behütenswerten Jugendlichen und angeblichem menschlichem Abfall unterscheidet. Das ist die Grundhaltung eines bestimmten Milieus und dessen politischen VertreterInnen. In diesen Kreisen herrscht so was wie ein Glaube an Bestimmung. Während die einen diesem Glauben zufolge bestimmt sind (von Gott, vom Schicksal, durch ihre Gene), sich tüchtig und erfolgreich auf höheren sozialen Ebenen zu tummeln, muss es ihrer Auffassung nach auch so was wie einen Bodensatz der Gesellschaft geben, für den sich keinerlei Aufwand lohnt.

Nein, das wird jetzt kein sentimentales Leugnen der wenig romantischen Realität. Die Realität ist, dass wir tatsächlich verwahrloste Jugendliche haben, die nicht resozialisiert werden können, weil sie erst einmal ausreichend sozialisiert werden müssten. Das zu versuchen, wäre allerdings in unser aller Interesse, weil die Gewalt und die Gleichgültigkeit, die sie erfahren, sonst auf uns zurückschlagen. Bis zu einem gewissen Grad ist das bereits der Fall.

Dass eine größere Bevölkerungsgruppe dem Elend preisgegeben wird, ist an sich kein neues Phänomen. Über eine lange Zeit wurden Menschen auch in unseren Breiten in Knechtschaft gehalten, durch Hunger und Krankheit jeder Widerstandskraft beraubt, in Eroberungskriegen verheizt. Heute haben wir, zumindest hier bei uns, das materielle Elend weitgehend abgeschafft. Es gibt Arme, aber sie sind nicht mehr so arm wie früher. Geblieben ist jedoch ein soziales Elend, das Jugendliche ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, ohne Zukunftsperspektive, ohne Eigenverantwortung produziert. Die öffentliche Hand füttert sie durch und sorgt in der Regel dafür, dass sie ein Dach über dem Kopf haben, weswegen sie nicht kraftlos kuschen müssen. Sie sind durchaus widerständig, sie begehren auf, sie wollen was von ihrem Leben haben – aber was? Eigentlich wissen sie es nicht – alles, was ihnen einfällt, sind Konsumwünsche. Kein Wunder, sie werden ja auch ständig zum Konsumieren animiert, und zwar nur dazu.

Sich mehr oder weniger angewidert darüber auszulassen, dass ihre Eltern nicht imstande oder willens sind, sie zu erziehen, bringt nichts. Offensichtlich ist das so (nicht zuletzt deshalb, weil schon diese Eltern oft ohne kompetente Betreuung aufgewachsen sind). Trotzdem müssten sie alphabetisiert, sozialisiert, diszipliniert werden, sprich: lernen, was lohnende Ziele sind, wie man sie sich setzt und wie man sie erreichen kann.

Wer ist dafür zuständig? Die Lehrerinnen und Lehrer sind damit überfordert. Für zusätzliches Personal – an den Schulen und in der Sozialarbeit – gibt es kein Geld.

Stattdessen überlegen PolitikerInnen, mit welchen finanziellen Zuwendungen man den Frauen/den Familien mehr Lust auf mehr Kinder machen könnte. Man fördert das Kinderkriegen, aber beim Kinderhaben fehlt die Unterstützung.

Mehr Mut zum Kind! Welche Art von Mut wird da ausgerufen? Fortpflanzung als draufgängerische Augen-zu-und-durch-Aktion? Nicht lang nachdenken, einfach Kinder in die Welt setzen? Teenager-Mütter, ohne Reife, ohne Schulbildung und ohne pädagogische Kompetenz, damit die Geburtenrate steigt?

Mehr Kinder, egal, wie sie aufwachsen und was aus ihnen wird, sind kein gescheites Konzept. Was wir brauchen, sind Kinder, die genügend Zuwendung und Zuneigung kriegen, die erfahren, dass zu lernen und sich anzustrengen beglückend sein kann – und die realistische Aussichten haben, das Gelernte einmal nutz- und gewinnbringend anzuwenden. Was wir brauchen, sind nicht noch mehr chancenlose Jugendliche, sondern wenigstens annähernd gleiche Chancen für möglichst alle Jugendlichen.
Das würde kosten, zum Beispiel Geld für Schulen, in denen soziale Defizite kompensiert werden können. Ist aber vielleicht am Ende billiger, als Häfenbrüder und -schwestern heranzuziehen. Oder sagen wir es so: besser betreutes Wohnen, das Jugendliche davor bewahrt, straffällig zu werden, als bewachtes Wohnen im Knast.

Zurück zum Anfang: Kurt Grünewald, langjähriger Gesundheitssprecher der Grünen, wurde kürzlich in einem Radiointerview befragt, was ihm nicht abgehen werde nach seinem bevorstehenden Rückzug aus dem Parlament. Er antwortete sinngemäß: der Frust darüber, dass Kompetenz und gute Argumente nicht ausreichen, berechtigte Anliegen durchzubringen.
Ja, das ist nachvollziehbar. Den Frust haben wir allerdings auch außerhalb des Parlaments, wenn wir überlegen, was so alles beschlossen wurde – ohne Rücksicht auf die vorhersehbaren Folgen.

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