Elfriede Hammerl: Wir brauchen eine Exit-Strategie!
Müssen wir wirklich unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand aufs Spiel setzen, um ein paar Alte zu retten, die sowieso bald sterben würden? Nein, das fragen wir nicht. Vielmehr: Das fragen wir nicht so. Wir fragen: Wie lange können wir es uns noch leisten, unsere Wirtschaft zu gefährden? Oder: Ist es vertretbar, die wirtschaftliche Existenz so vieler junger Menschen zu riskieren? Oder: Wie lange werden wir dieses eingeschränkte Leben noch aushalten? Den zweiten Teil sagen wir nicht dazu, wir sagen stattdessen: Wir tun das für unsere Alten. Wir müssen Oma und Opa schützen. Und schon wird klar: Oma und Opa sind diejenigen, die uns ruinieren.
Obwohl, so diskret sind wir gar nicht mehr. Der „Falter“ zum Beispiel sagt es ganz offen, indem er es seinerseits ein anonymes Kollektiv sagen lässt: „Manche Menschen sagen, wir bleiben alle zu Hause und retten die älteren Menschen. Gleichzeitig zerstören wir die Wirtschaft, was langfristig viel mehr Menschen das Leben kosten wird. Die Zahl der Selbstmorde wird steigen, es wird zu Aufständen kommen.“ (Interviewfrage an Werner Kogler, Falter 14/20)
Auch Spiegel-Verleger Jakob Augstein wog bei Sandra Maischberger kürzlich (am 1. April in der ARD) das „Leid der Leute zu Hause“ gegen den Tod durch Corona ab. „Einsam und depressiv“ seien die daheim. Das sei nur nicht „so leicht zu bebildern“ wie die Zustände in Italien mit den vielen Särgen. (In denen, wie man weiß, alte Leute liegen, tot trotz der Opfer, die ihretwegen gebracht wurden.) Aber diese italienischen Bilder gelte es, „aus dem Kopf“ zu bekommen.
Also: Oma und Opa sind das Problem, nicht Corona. Wir brauchen, heißt es, eine Exit-Strategie. Interessantes Wort. Wessen Exit ist gemeint?
Vielleicht sollte man, ehe der allgemeine Groll auf die Alten übermächtig wird, eine Änderung des Narrativs vornehmen und den Fokus auf den eigenen Nutzen legen, statt sich unentwegt wegen Edelmut und Selbstlosigkeit auf die Schultern zu klopfen. Weil: Es stimmt halt nicht, dass nur die Alten (und die aus anderen Gründen Geschwächten) ernsthaft gefährdet sind. Es stimmt nicht, dass Jüngere eine Corona-Infektion locker wegstecken. Und es stimmt daher auch nicht, dass wir unser Gesundheitssystem nur wegen ein paar GreisInnen vor dem Kollaps bewahren müssen. Im profil der Vorwoche gab es zur „großen Unbekannten“, die die Corona-Infektion darstellt, ausführliches Datenmaterial zu lesen, das zeigte, wie unzulässig voreilige Schlussfolgerungen sind.
Der sogenannte Shutdown resultiert keineswegs aus der Rücksichtnahme auf die marginale Personengruppe der Hochbetagten, sondern wurde im Interesse aller beschlossen.
Was es in Österreich bislang nicht gibt, sind valide Zahlen zur Altersverteilung unter den Infizierten mit schwererem Krankheitsverlauf. Die größte detaillierte Studie des klinischen Verlaufs aus China, bei der 1099 Covid-19-Patienten untersucht wurden, weist 173 – also 15,7 Prozent – schwer Erkrankte aus, von denen 41,7 Prozent unter 50 Jahre alt waren. Hierzulande sind an Covid-19 zwar vorwiegend Menschen über 75 gestorben, aber bei den Infizierten – so weit wir sie kennen, denn die Zahl der VirusträgerInnen ohne Symptome liegt ja im Dunkeln – überwiegen die 45- bis 54-Jährigen. Rund zehn Prozent der nachweislich Infizierten brauchen eine Spitalsbehandlung. Richtig behandelt, haben die Jüngeren gute Überlebenschancen. Dass sie richtig behandelt werden können, setzt allerdings ausreichend verfügbare Spitalsbetten voraus. Und die Verfügbarkeit hängt wiederum davon ab, was es in absoluten Zahlen heißt, wenn etwa zehn Prozent der Infizierten ins Spital müssen.
Ja, wissen wir eh. Wurde ausreichend kommuniziert. Aber wurde es auch ausreichend verstanden? Falls ja, müsste doch klar sein: Der sogenannte Shutdown resultiert keineswegs aus der Rücksichtnahme auf die marginale Personengruppe der Hochbetagten, sondern wurde im Interesse aller beschlossen. Das sollte man nicht extra betonen müssen, weil auch marginale Personengruppen einen Anspruch auf maximalen Schutz haben sollten, doch so selbstverständlich ist dieser Anspruch eben nicht. Beziehungsweise kann man das Maximum der beanspruchbaren Leistungen auch unterschiedlich definieren. Beispielsweise so, dass es wirtschaftstauglich ist. Profittauglich. Öffentlichkeitstauglich. Das heißt dann zum Beispiel: Keine neuen Hüftgelenke ab 60. Keine Augen-OP ab 70. Keine Corona-Behandlung ab 80. Und so fort.
Noch haben wir in Österreich ein solidarisches Gesundheitssystem. Dazu gehört, dass wir Risikogruppen nicht ausschließen. Aber eine Garantie dafür gibt es nicht. Wenn wir es beibehalten wollen, werden wir uns möglicherweise dafür einsetzen müssen.
Damit zu argumentieren, dass durch Corona – oder eine andere Krankheit – letztlich ohnehin nur ein paar Todgeweihte sterben werden, bringt uns jedenfalls in ein gefährliches Fahrwasser. Schlimm genug, dass in anderen Ländern Schwerstkranke aufgegeben werden, damit weniger schwer Erkrankte gerettet werden können. Wer jedoch vorauseilend und ohne eingetretene Notlage schon mit unvermeidlichen Todesfällen kalkuliert, teilt Menschenleben in werte und unwerte ein. Diese Zeiten, haben wir geglaubt, sind vorbei.
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