Elfriede Hammerl: Gerechtigkeit

Wo Tauben zufliegen und wer die Einflugschneisen schafft.

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Der Pflegeregress ist abgeschafft, und nicht alle sind damit zufrieden. Weil: Ist es denn gerecht, dass sich Wohlhabende auf Kosten der Allgemeinheit pflegen lassen?

Diese Frage kann man natürlich stellen. Man könnte auch fragen: Ist es gerecht, dass Wohlhabende auf Kosten der Allgemeinheit operiert und womöglich aufwendig therapiert werden? Dass Betuchten kostenlos öffentliche Schulen für ihre Kinder zur Verfügung stehen? Dass gstopfte Alte mit einem ermäßigten Seniorenticket in der Straßenbahn fahren dürfen?

Staatsgebilde, in denen so was nicht möglich ist, sind nicht nur denkbar, sondern anderswo auch Realität. Jeder seines Glücks, jede ihres Unglücks Schmied. Kein Geld für eine lebensrettende OP? Dann, leider: Pech gehabt. Umsonst ist nur der Tod. (Vorher vielleicht noch verzweifelte Geldbeschaffungsaktionen der lieben Angehörigen. Haben sie was zu verscherbeln? Können sie sich verschulden, prostituieren, betteln gehen?)

Oder, weniger dramatisch: Kein Geld für ein eigenes Auto? Tja, schade, denn öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht.

Solche Gesellschaften gehen davon aus, dass jeder Mensch ganz allein für sich verantwortlich ist, und dass Tüchtigkeit schon belohnt werden wird, während diejenigen, denen es schlecht geht, nur die gerechte Strafe für ihre Faulheit erleiden.

Auf diesen Standpunkt kann man sich natürlich stellen, wir haben es hierzulande bis jetzt jedoch nicht getan. Wir setzen – noch – auf Solidarität. Risiken wie Krankheit, Invalidität oder Pflegebedürftigkeit sollen gemeinschaftlich getragen werden. Und es gibt öffentliche Einrichtungen, die allen kostenlos oder zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen.

Im Rahmen dieser Betrachtungsweise ist es nur logisch, wenn von Pflegebedürftigen nicht länger verlangt wird, dass sie sich bis aufs letzte Hemd ausziehen, um einen Anspruch auf Versorgung zu haben.

Bisher war es ja – wenig gerecht – so: Wer sein Gerschtl noch als Gesunder durchbrachte, konnte sich hinterher aufs Sozialsystem verlassen. Wer hingegen so dumm gewesen war, sich was erspart zu haben, wurde zur Kasse gebeten.

Das traf vor allem die kleinen Leute, die mit der bescheidenen Eigentumswohnung, dem Einfamilienhäuschen, dem Notgroschen auf dem Konto. Denen fraßen die Pflegekosten das fleißig Ersparte weg.

Zwischenfrage: Ja, müssen denn die Einfamilienhäuschen den Kindern erhalten bleiben? Nein, müssen sie nicht. Aber war es gerecht, dass sie den einen abgenommen wurden, während die anderen ein ungeschmälertes Erbe antreten durften, weil ihre Eltern glücklicherweise von jeglichem Siechtum verschont blieben? Natürlich sollen die Betuchten einen Beitrag leisten. Aber eben nicht nur im Fall der persönlichen Betroffenheit, sondern auf jeden Fall, durch Einzahlungen in ein entsprechendes Solidarsystem. Zumindest entspricht das unserer bisherigen Auffassung.

Warum ist es einfacher, Reichtum zu vermehren, als mit einem kleinen Gehalt auf einen halbwegs grünen Zweig zu kommen?

Auch unsere öffentlichen Einrichtungen, unser Gesundheitssystem und unsere Altersversorgung basieren ja auf der Vorstellung, dass die Einzelnen je nach ihren Möglichkeiten dazu beitragen sollen.

In puncto Möglichkeiten herrschen allerdings große Auffassungsunterschiede. Sonderbarerweise billigen wir gerade den Reichsten eine Art Abgabenschwäche zu, die es zu berücksichtigen gilt, ein zartes Prinzessin-auf-der-Erbse-Naturell gewissermaßen, das geschont werden muss.

Deshalb (oder warum sonst?) profitieren sie nicht nur von null Vermögens- und Erbschaftssteuern, sondern zum Beispiel auch von einer äußerst moderaten Höchstbeitragsgrundlage bei der Krankenversicherung und können mit ihren bescheidenen Beiträgen die nicht berufstätige Gattin mitversichern lassen, während die alleinerziehende Verkäuferin, bingo, brav in die Krankenkasse löhnen muss. Das ist, meine ich, Brutalität.

Wem also Gerechtigkeit am Herzen liegt, der könnte beispielsweise einmal über die Berechtigung der Höchstbeitragsgrundlage nachdenken. Oder wenigstens darüber, ob sie nicht angehoben gehörte. Oder eben darüber, wer wem eher Solidarität schuldet: die BetragszahlerInnen der nicht berufstätigen Ehefrau des besonders gut verdienenden Mannes oder der gut verdienende Mann samt Frau den BeitragszahlerInnen.

Derzeit jedenfalls zahlt einer, der 10.000 Euro im Monat verdient, nicht mehr in die Krankenversicherung ein als jemand mit dem halben Gehalt. Nun sind 5000 Euro zwar kein mitleiderregender Hungerlohn, aber unausgewogen ist das allemal und unverständlich ist es auch. Was enthebt den oder die mit dem höheren Einkommen von der Verpflichtung, entsprechend höhere Beiträge zu leisten?

Nein, das soll keine Neiddebatte werden. Höhere Gehälter sind nicht automatisch das unverdiente Produkt dubioser Machenschaften, und das Erwirtschaften eines gewissen Wohlstandes muss erlaubt sein. Aber warum wird das den eh schon Begünstigten leichter gemacht als den anderen? Warum ist es einfacher, Reichtum zu vermehren, als mit einem kleinen Gehalt auf einen halbwegs grünen Zweig zu kommen? Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Kann sein. Hat aber auch was mit den Einflugschneisen zu tun, die von staatlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

[email protected] www.elfriedehammerl.com