Elfriede Hammerl: Gering qualifiziert

Zieht denn viel Wissen automatisch viel Entlohnung nach sich? Und: muss man wirklich Mandarin beherrschen?

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Also, das wird ja jetzt leider doch nichts mit einer besseren Bezahlung für das Pflegepersonal. Was haben wir diese unermüdlichen SystemerhalterInnen im ersten Lockdown nicht beklatscht und gepriesen, aber mit mehr Kohle schaut's weiterhin düster aus. Weil: gering qualifiziert. Das sind sie, die Angehörigen der pflegenden Berufe. Sie erhalten das System, aber sie sind, naja, nicht sonderlich gut ausgebildet. Sagte jedenfalls bekanntlich der neue Arbeitsminister. Wörtlich sagte er (in einem Interview mit der „Wiener Zeitung“), der „Wert von Pflege“ werde „gering bemessen, weil sie kaum spezifische Fähigkeiten erfordert“. 

Nun stimmt es ja, dass die durchschnittliche Pflegekraft weder Mandarin beherrscht noch versiert ist im Stakeholdermanagement, aber, wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich im Bedarfsfall nicht unbedingt von einer derartigen Spezialistin betreut werden wollte, sondern lieber von einer Person, die Krankenpflege gelernt hat. Die Qualifikationen, die man dabei erwirbt, mögen zwar bescheiden sein im Vergleich zu hochspezialisiertem Wissen, kommen aber PatientInnen vermutlich mehr zugute als noch so ausgefuchste Kenntnisse in Vermögensrecht und internationaler Betriebswirtschaft.

Nein, das heisst nicht, dass ich Kenntnisse in Vermögensrecht oder die Beherrschung von Mandarin missachte, ich wende mich bloß gegen die Missachtung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die für unsere Gesellschaft, sagen wir einmal, mindestens so wichtig sind wie – weitaus besser entlohnte – Kenntnisse und Tätigkeiten auf alltagsfernen Gebieten. 
Ein Leser warf mir kürzlich Gebildetenfeindlichkeit vor. Immerzu würde ich das Los der Minderqualifzierten beklagen. Ob ich denn wüsste, was es heisst, jahrelang zu lernen und zu studieren? Zu Recht bekämen besser Gebildete mehr bezahlt. Und ob ich schon einmal vom freien Markt gehört hätte? Mitarbeiter würden dann gut entlohnt, wenn sich ihre Arbeit für das Unternehmen lohne.

Hier liegen ein paar Mißverständnisse vor und ich kläre sie gerne auf, weil ich befürchte, dass mein Kritiker nicht allein dasteht mit seiner Meinung.

Also, erstens: Einkommensunterschiede beruhen nicht allein auf unterschiedlicher Qualifikation. Viel Wissen zieht nicht automatisch viel Entlohnung nach sich. Es gibt Menschen, die miserabel verdienen, obwohl sie enorm viele und nützliche Kenntnisse erworben haben. Hervorragend ausgebildeten jungen AkadamikerInnen werden „Praktika“ angeboten, die in Wirklichkeit prekär bezahlte Jobs sind. Im Wissenschaftsbetrieb herrscht ein oft gnadenloser Konkurrenzkampf, den nicht zwangsläufig nur die Allerklügsten gewinnen. Und auf dem Arbeitsmarkt liegen durchaus qualifizierte Kräfte brach, weil sie zu alt und damit zu teuer geworden sind für eine Wirtschaft, die eben nicht bereit ist, Qualifikation (zu der auch Erfahrung gehört) auf jeden Fall hoch zu ranken.

Zweitens: Der Gerechtigkeit des Einkommenssystems ist nicht schon dadurch Genüge getan, dass Menschen, die vergleichsweise einfachen Tätigkeiten nachgehen, grottenschlecht bezahlt werden. Oder, anders gesagt: Nein, es ist nicht alles in Ordnung, solange Hackler sich um einen Hungerlohn plagen müssen, weil sie kein Hackeldiplom erworben haben.

Drittens: Ob sich eine Arbeitskraft für ein Unternehmen rechnet, ist das eine, der gesellschaftliche Nutzen ihrer Arbeit eventuell etwas anderes. Wenn Profitmaximierer in Saus und Braus leben können, während diejenigen, die sozialen Mehrwert schaffen, auf der Strecke bleiben, dann stimmt etwas nicht mit dem System.

Und last but not least: Natürlich gibt es hoch spezialisiertes Wissen und Können, dessen überragender Wert und Nutzen unbestreitbar sind. Das wird gerade jetzt besonders deutlich. In Ehrfurcht ziehen wir den Hut vor all den Koryphäen, deren Kenntnissen wir unsere Überlebenschancen in dieser Zeit der Pandemie verdanken. Niemand fände es ungerechtfertigt, wenn sie ein Vielfaches dessen verdienten, was gewöhnliche ArbeitnehmerInnen monatlich so auf ihr Konto kriegen (Konjunktiv, weil das, siehe oben, keineswegs garantiert ist), aber trotzdem sollten die gewöhnlichen ArbeitnehmerInnen vom Ertrag ihrer Arbeit halbwegs gut leben können. That's it.

Wissenserwerb verdient Wertschätzung, keine Frage. Manchen wird er freilich weit schwerer gemacht als anderen, auch das sollte man nicht vergessen. Nein, nicht jeder, der den Pflichtschulabschluss schmeisst, ist eine verhinderte Koryphäe, aber auch motivierte SchülerInnen mit guten Lernerfolgen brauchen, wenn sie aus finanziell schlecht gestellten Elternhäusern kommen, besondere Kraft und Zähigkeit, um ein womöglich vielsemestriges Studium durchzustehen. Manche geben auf. Manche scheuen überhaupt davor zurück. Die Konsequenzen daraus müssen sie ohnehin tragen. Ersparen kann man ihnen jedoch nonchalante Geringschätzung für eine weniger anspruchsvolle Berufswahl. Und ist ein Schnösel, der mit viel Nachhilfeaufwand durch eine AHS getragen wurde, eigentlich respektabler als eine Pflegehelferin?