Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl: Glaub an dich!

Wie die Impfgegner:innen Selbstvertrauen mit Größenwahn verwechseln.

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Nicole sagt, sie wollte eigentlich Sängerin werden, aber ihre Eltern haben nicht an sie geglaubt. Statt sie zu unterstützen, haben sie gesagt, sie singt falsch. Das hat ihre Wunschkarriere verhindert.

Unter uns: Ich denke auch, dass Nicole falsch singt. Meiner Meinung nach ist sie musikalisch wie ein Holzschuh.

Darf man einem Menschen sagen, dass er falsch singt, wenn er falsch singt?

Nein, darf man nicht. Der Mensch muss ja an sich glauben. Und daran, dass er alles erreichen kann, wenn er nur will.

Nicole glaubt, dass sie dank heftigem Wollen das dreigestrichene C erreicht hätte. Ihre Eltern waren der hinderlichen Überzeugung, dass das dreigestrichene C nicht jeder singenden Person gegeben ist.

Nicole macht es besser als ihre Eltern. Sie ermutigt ihre Kinder. Pausenlos. Unentwegt. Was sie machen, machen sie nicht nur gut, sondern außerordentlich gut, Nicoles bedingungsloser Beifall ist ihnen sicher. Schätzchen, du bist eben was Besonderes!, sagt sie zu ihrer Tochter. Und dass die Spanischlehrerin eine blöde Kuh ist, weil sie das nicht erkennt.

Meiner Ansicht nach ist Nicoles Tochter allenfalls besonders faul, aber ich meine ja auch, dass man Vokabeln lernen muss, statt daran zu glauben, dass sie einem schon zufliegen, wenn man vor Netflix sitzt. Wahrscheinlich bin ich eine frustrierte Alte, die keine internationale Bestsellerautorin geworden ist, weil sie nicht an sich geglaubt hat.

Darf man einem Menschen sagen, dass er falsch singt, wenn er falsch singt?

Jetzt höre ich, Nicole lässt sich nicht gegen Corona impfen, und es wundert mich nicht.

Ich bin gesund, sagt sie. Mein Immunsystem ist super. Mir kann nichts passieren. Ich bin was ganz Besonderes.

Ich zweifle, dass Omikron sich davon abschrecken lässt, doch wer gibt schon etwas auf meinen krankhaften Pessimismus? Na eben.

Nicole ist jedenfalls in zahlreicher Gesellschaft, das steht fest. Diese Gesellschaft ist zwar bei Weitem nicht so zahlreich, wie sie von sich behauptet, aber doch ausreichend laut und lästig. Freiheit!, schreien Nicole & Co und reißen sich –  und auch anderen – die Masken vom Gesicht. Sie nehmen sich die Freiheit, den freien Willen derer zu attackieren, die lieber eine Maske tragen möchten, als angesteckt zu werden, aber darin sehen sie keinen Widerspruch.

Was geht in ihnen vor, wenn sie in die Kameras grinsen und sagen: Ich glaube nicht an das Virus. Ich glaube nicht an eine Pandemie. Ich kann nicht krank werden!?

Überqueren sie vor dem herandonnernden Railjet die Eisenbahngleise und sagen: Ich glaube nicht an Züge!?

Springen sie aus dem zehnten Stock, weil sie ihre Gesundheit für unzerstörbar halten?
Vielleicht, demnächst, wer weiß.

Zuversicht ist gut, aber man kann es damit auch übertreiben. Und sobald sie anfangen, andere aus dem zehnten Stock zu schubsen, wird es richtig ärgerlich.

Ach so, richtig, sie haben schon damit angefangen! Sie greifen medizinisches Personal an, blockieren Krankenhauszufahrten, gehen auf Kameraleute los, belästigen Reporter:innen. Denn sie wollen endlich ihr altes Leben zurück! Geht nicht? Es wird ihnen gar nicht mutwillig vorenthalten? Lügenpresse!

Im Ernst: Natürlich sind Ermutigung und Zuversicht nützlich und notwendig, und an sich selbst zu glauben, ist besser, als an gottgewollte Hierarchien zu glauben, die nicht infrage gestellt werden dürfen. Niemand will die schwarze Pädagogik zurück, die Kinder ständig auf ihre – tatsächlichen oder angeblichen – Defizite hinwies, niemand sehnt sich nach den Zeiten, als der Selbstwert durch die Gnade oder, häufiger, Ungnade der Geburt definiert wurde.

Aber zwischen Selbstvertrauen und Größenwahn ist halt ein gewaltiger Unterschied.

Ironischerweise ist es mittlerweile der viel beschworene Glauben an sich selbst, der neuerlich dazu dient, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, und seien sie noch so ungerecht, zu legitimieren. Glaub an dich. Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst. Erreichst du es nicht, hast du nicht genügend an dich geglaubt. Misserfolg ist selbst verschuldet.

Und schon sind diejenigen, die die Rahmenbedingungen zu verantworten haben, üblicherweise aus dem Schneider.

Dass sie ausgerechnet jetzt für etwas zur Verantwortung gezogen werden, wofür sie ausnahmsweise nichts können, nämlich eine Pandemie, ist erneut eine ironische Wendung.

Nicole übt sich jedenfalls weiterhin in Realitätsverweigerung, obwohl sie auf die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit erst kürzlich gestoßen ist, als sie vergeblich
versucht hat, sich in eine Jeans der Größe 27 zu zwängen.

Bestimmt hat sie eisern daran geglaubt, dass sie schon irgendwie hineinpassen wird, aber: leider, nada.

Ihre Empörung richtet sich mittlerweile vor allem dagegen, als Ungeimpfte aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Das geht nicht. Dagegen muss sie schärfstens protestieren.

Na ja, sage ich, ich möchte im Theater nicht neben einem sitzen, der eine geladene und womöglich entsicherte Pistole in der Hand hat. So jemand sollte ausgeschlossen werden, finde ich. Du nicht?

Sie versteht nicht, was ich meine. Das habe ich befürchtet.