Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Glücksmomente

Glücksmomente

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Im Herbst 2003 erfuhr meine Freundin Moni, dass sie Darmkrebs hat. Fortgeschrittenes Stadium. In der Leber zeigten sich bereits Metastasen. Moni wurde operiert und 41 Wochen lang chemotherapiert. Die Lebermetastasen wurden in einem neuen – und weltweit einzigartigen – Hightech-Verfahren verkocht, so der Fachausdruck.

Diese Behandlung ist seitdem immer wieder einmal notwendig. Sie ist nicht ohne Risiko und muss mit äußerster Präzision durchgeführt werden. Aber sie sorgt dafür, dass sich das Karzinom in der Leber nicht ausbreiten kann. Zurzeit braucht Moni – nach fünf Jahren, in denen sie auf Krebsmedikamente völlig verzichten konnte – wieder eine Chemo, weil nun auch kleinste Metastasen in ihrer Lunge festgestellt wurden. Die Behandlung kann diesmal kurz gehalten werden, denn die Metastasen wurden zum frühestmöglichen Zeitpunkt entdeckt (ein Effekt der häufigen Kontrollen) und zeigen keine Tendenz zur raschen Vermehrung. Alle diese Behandlungen sind aufwändig und teuer. Moni muss immer wieder zu (kostspieligen) Untersuchungen und Eingriffen ins Spital. Die Chemotherapien verursachen Hautausschläge, Durchfall und chronische Nervenschmerzen. Ja, und? Wer jetzt dumm daherredet und fragt, ob denn ein Leben unter solchen Belastungen überhaupt lebenswert sei, hat ­keine Ahnung.

Moni war doch in den letzten sieben Jahren nicht ausschließlich Patientin! Sie hat auch mit Freude gear­beitet, ihr Familienleben genossen und Freundschaften gepflegt. Sie hat sich im Senat der Uni Innsbruck engagiert, mit ihrem Mann in Wien eine kleine Zweitwohnung saniert und über ihre abenteuerlichen Erfahrungen dabei ein Buch geschrieben1. Sie ist jeden Sommer mit einem Schippel Freundinnen nach Istrien gefahren, wir sind im Meer geschwommen, haben uns wilde Turniere im Bauernschnapsen geliefert und wunderbare Konzerte in der Basilika von Porec gehört.

Sieben Jahre, voll mit größeren und kleineren Glücksmomenten – Ausstellungen, Kino, Geburtstagsfeste, Spargel­essen, verregnete Sonntage auf der Couch mit Büchern, ein Ausflug nach Venedig. Will sich irgendjemand anmaßen, eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen, nachrechnen zu wollen, ab wann sich all das Geld, der Hightech-Aufwand anfangen zu lohnen – für wie viele Jahre Überleben, für welche Anzahl Glücksmomente minus wie viele Einheiten Schmerz und Sorgen? Jeder Cent, der zu einem noch so kurzen Augenblick Glück beiträgt, ist eine gute Investition. Das müsste unsere grundsätzliche Haltung zur Finanzierung des Gesundheitswesens sein. Wenn wir von diesem Konsens abgehen – und wie es aussieht, sind wir dabei, ihn aufzugeben –, wird es ­bedrohlich.

Bedroht sind wir alle. Krankheit kann jeden und jede treffen. Warum realisieren das Gesunde so selten? Warum gehen sie so häufig arrogant und ignorant davon aus, dass sie selber davor geschützt sind, jemals auf die Solidarität (ja, es geht um die gute, alte altmodische Solidarität) der anderen angewiesen zu sein? Woher nehmen sie die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie Menschenleben in qualitativ annehmbare und unannehmbare einteilen, woher nehmen sie die Gewissheit, dass sie selber sich lieber gleich umbringen würden, als belastende Therapien zu erdulden? (Im Ernstfall, als Kranke, sind übrigens gerade die vorher Kaltschnäuzigen meist besonders panisch ums Überleben bemüht. Ist ja auch okay. Aber warum haben sie kein bisschen Empathie aufgebracht, als sie noch nicht selber betroffen waren?)

Glücklichsein kann man nicht von außen messen oder beurteilen. Wer die Kostenfrage mit dem Beschwören gequälter Kreaturen an Apparaturen verknüpft, ist verdächtig. Die Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit invasiver Behandlungsmethoden zu debattieren muss erlaubt sein, aber nicht, wenn dahinter der Gedanke an Geldersparnis lauert. Über Kosten und ihre Tragbarkeit nachzudenken ist ebenfalls erlaubt, aber nicht unter der Prämisse, dass nach auszusortierenden hoffnungslosen Fällen zu suchen sei. Hoffnung ist so was wie ein Menschenrecht.

Moni hat mittlerweile sämtliche Statistiken über den Haufen geworfen, und wir alle, die sie kennen und mögen, hoffen zuversichtlich, dass ihre Krankheit weiter unter Kontrolle gehalten werden kann. Sie hatte Glück im Unglück: eine stabile Familie, gute Freundinnen und Freunde, eine hervorragende ärztliche Betreuung. Rundum Zuneigung. Sogar der Wirt vom Mittagsstammtisch trägt das Seine bei und gibt Monis Sohn Menüs ins Krankenhaus mit, die sich wohltuend von der Spitalskost unterscheiden. Geborgenheit. Wenn medizinische Fragen auftauchen, mobilisiert Grete, die befreundete Internistin, alles, was an Know-how und Kapazundern verfügbar ist. Das gibt ein beträchtliches Maß an Sicherheit trotz der Ungewissheit, die die Krankheit mit sich bringt.

Die positive Wirkung all dieser Faktoren lässt sich vielleicht nicht streng naturwissenschaftlich beweisen, aber der Schluss liegt nahe, dass Verunsicherung das Gegenteil bewirkt. Wer bangen muss, ob er als möglicherweise aussichts­loser Fall teure Behandlungen wert sein wird, büßt tatsächlich seine Lebensqualität ein, aber daran sind dann nicht die Therapien schuld.

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