Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Heilslehren

Heilslehren

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Lieber gar keinen Sex als schlechten. Eine Binsenweisheit, sollte man meinen. Eine No-na-Erkenntnis. Aber nein, eine revolutionäre Parole! Wie in profil 16/2013 kürzlich zu lesen war, macht in Frankreich ein Buch Furore, das die Vorzüge sexueller Enthaltsamkeit preist, und dessen Autorin Sophie Fontanel von Talkshow zu Talkshow tingelt, um eben diese schlichte Weisheit zu verkünden. Schon ist eine neue Heilslehre geboren. Abstinenz!

Aber warum, äh, muss da gleich ein Masterplan draus werden, wenn eine grad keine Lust hat (vielleicht ja nur, weil keiner da ist, der ihr Lust auf sich macht)? Unaufgeregt könnte man es auch so sehen: Die meisten Menschen haben im Laufe ihres Lebens mal guten, mal weniger guten, mal mehr, mal weniger, mal gar keinen Sex, und wenn sie gar keinen haben, geht er ihnen einmal mehr, einmal weniger ab. Frau Fontanel ist gerade enthaltsam und vermisst nichts. Schön für sie, aber weshalb muss sie das landauf, landab verkünden und zur Nachahmung empfehlen? Und warum muss in Deutschland ein Internet-Forum ­(Asexuality Visibility And Education Network) desgleichen tun?

Weil die Lustlosigkeit im Gegensatz zu einer anderen Heilslehre steht: dem Glauben an die Notwendigkeit des permanenten ultimativen Orgasmus. Dauergeilheit ist ja angesagt. Sex als Lebensprinzip. Sex ist geil, Pornos sind geil, Geiz ist geil, Käse ist geil. Wer nicht geil ist, soll sich fragen, was an ihm oder ihr nicht stimmt. In diesem Klima des angeblich unentwegt brodelnden Begehrens wirkt es dann gleich schockierend, wenn jemand sagt: Ich begehre nicht. Das brauch ich nicht. Und, schaut mich an, ich sehe dabei ganz normal aus und ich bin sogar glücklich.

Bevor Abstinenz schockierte, schockierte das Eingeständnis, dass der Mensch sexuelle Bedürfnisse hat. Die flächendeckende Sexualisierung war bekanntlich eine Reaktion auf Prüderie, Verklemmtheit und das moralinsaure Leugnen der Lust an der Lust. Was als begrüßenswerte Offenheit begann, entwickelte sich jedoch zu einem Overkill. Mittlerweile fällt es schwer, sexfreie Zonen zu finden, in denen man sich vom gesellschaftlich verordneten Orgamuszwang ausruhen kann.

Und schon wieder ist jede Ehrlichkeit verloren gegangen. Musste man vor sechzig Jahren sittsam Lustlosigkeit heucheln und monogame Bescheidenheit, die Sex nur als Mittel ehelicher Fortpflanzungsbemühungen definierte, ist es mittlerweile Pflicht, mit einem überbordenden Trieb­leben zu protzen und mit dauernder Paarungsbereitschaft bis ins hohe Alter.

Und durfte man früher nicht darüber reden, muss man es jetzt unentwegt. Alle, alle teilen sie einem alles mit über ihre abrasierten Schamhaare, ihr Intimpiercing, die Zahl ihrer Sexualpartner und die Stellungen, in denen sie es am liebsten treiben.
Will ich das alles wissen? Nein, eigentlich nicht. Warum wird es mir dann erzählt? Im guten Glauben, dass es mir den Tag verschönt, wenn ich erfahre, welche Promis mit welchen Promis an welchen Orten welche Art von ­Geschlechtsverkehr hatten? Nein, sondern weil es wieder einmal um Wettbewerb geht. Eine konkurrenzfixierte Gesellschaft verlangt gegenseitiges Sich-Übertrumpfen auch in Sachen sexueller Potenz: Wer hat das erfolgreichere Triebleben? Wer kann öfter, besser, höher? (Höher? Aber ja, vielleicht auch das.) Und weil man diesen Wettkampf kaum noch gewinnen kann, ist jetzt Prunken mit dem Gegenteil angesagt: Ätsch, ich könnte, aber ich will nicht! Wollen kann jede/r, aber Nicht-Wollen muss man können! Macht es mir nach!

An dem Beispiel zeigen sich zwei Phänomene, die in wechselnder Verkleidung immer wieder auftreten. Erstens die menschliche Neigung, sich zum Maß aller Dinge aufzuschwingen. Wenn ich es tue, sollen alle es tun, Wenn ich es gut finde, müssen es alle gut finden. Seht her, ich verkünde euch die einzig wahre Wahrheit! Nicht immer wird eine Religion draus, zum Glück, aber auch banale Moden, die mit missionarischem Eifer verbreitet werden, nerven ganz schön.

Und andererseits zeigt sich ein offenbar tiefverwurzeltes Bedürfnis nach Ver- und Geboten, als wäre die Entscheidungsfreiheit eine Überforderung.

Haben der aufgeklärte Mitteleuropäer, die religionskritische Mitteleuropäerin sich für Selbstbestimmung ins Zeug gelegt, um jetzt zwar an Freitagen Wurstsemmeln ­essen zu dürfen, dafür aber an Wurzeltagen aufs Haareschneiden zu verzichten? (Liebe Mondkalender-Gläubige, bitte klärt mich nicht auf, was an Wurzeltagen tatsächlich verboten ist, das hier ist nur eine Metapher.)

Auch der gute alte Lemming scheint evolutionstechnisch in der menschlichen Psyche seinen Fußabdruck hinterlassen zu haben. Machen wollen, was alle machen. Unterlassen wollen, was alle unterlassen. Und nach einer Weile die kollektive Kehrtwende: Jetzt machen wir alle nicht mehr, was alle gemacht haben, weil wir so zwangsoriginell sind. Uniformer Individualismus, eine Perversion.

Ja, die Medien tragen ein Gutteil bei zu den kollektiven Hypes und No-Goes. Aber sie würden scheitern, gäbe es das Entgegenkommen der Konsumenten und Konsumentinnen nicht, die sich willig in neue Verhaltensmodewellen werfen, egal, welche Fitness-, Lifestyle- oder Ernährungsabsurditäten ihnen dabei abverlangt werden. Deprimierend.

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