Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Kein Verlass

Kein Verlass

Drucken

Schriftgröße

Amelie heißt nicht Amelie, aber die Zeitung, die über ihr Schicksal berichtet hat*, gab ihr diesen Decknamen. Amelie ist dreieinhalb und hat schon ein Schicksal, das sich im Chronikteil einer Tageszeitung niederschlägt. Sie wurde von ihrer Mutter und deren Freund schwer misshandelt. Vor allem vom Freund. Der Freund, in der Zeitung Stief­vater genannt, hat Amelie geprügelt, in den Kasten gesperrt und an den Ohren durchs Zimmer gezerrt, er hat sie vom Sofa gestoßen und ihr den Mund mit Tixo verklebt, er hat ihr den Arm gebrochen und ihr den Duschkopf der Brause ins Gesicht gestoßen, sodass sie blutüberströmt ins Spital gebracht werden musste.
Jetzt lebt Amelie bei ihrer Tante. Ihre Mutter und der Freund der Mutter stehen vor Gericht.

Beim Lesen solcher Geschichten (Amelie ist, wie man weiß, kein Einzelfall) macht sich Fassungslosigkeit breit. Wie kann so etwas passieren?
Die Fassungslosigkeit gilt weniger dem so genannten Stiefvater als der Mutter. Der Stiefvater ist ja nicht der Vater und will auch keiner sein, er ist ein brutaler Kerl, dessen Freundin zufällig ein Kind hat. Das Kind war ihm lästig. Und wenn wir ihn auch für einen miesen, ekelhaften Typ halten, so setzt er uns insofern nicht so sehr in Erstaunen, als wir wissen, dass es miese, ekelhafte, gewalttätige Typen gibt.

Aber die Mutter: Wie konnte sie zulassen, dass dieser Mann ihr Kind misshandelt hat?

Die brutale Wahrheit ist: Auch ihr war es anscheinend lästig. „Sie hat uns verarscht“, sagt die Mutter vor Gericht. Und führt als Beispiel an: Amelie habe „Schau her!“ gesagt und dann absichtlich eine Schale mit Cornflakes hinuntergeworfen.

Ja, so was machen Kinder, vor allem, wenn sie wütend sind, zum Beispiel, weil sie sich schlecht behandelt fühlen. Kinder provozieren, protestieren, sind laut, sind unvernünftig, sind anstrengend, beanspruchen Zeit. Passt alles nicht so gut in ein neues Mutterleben mit einem Typ, der kein Vater sein will.

Das verstehen wir, aber was wir nicht verstehen, sind die Konsequenzen, die Amelies Mutter daraus zieht. Statt sich einen anderen Typ zu suchen (oder auf Typen zu verzichten), lässt sie zu, dass er ihr Kind misshandelt.
Fassungslos sind wir, weil solchen Frauen die miesen Kerle wichtiger sind als ihre Kinder. Deren Verlust fürchten sie, den Verlust ihrer Kinder riskieren sie. Das widerspricht unserer Auffassung von Mutterliebe. Die Mutterliebe, haben wir gelernt, ist stärker als alles andere, für eine Mutter haben die Kinder immer Vorrang, auf die Mutterliebe ist Verlass.

Und jetzt stellt sich heraus: Es ist kein Verlass darauf, dass auf die Mutterliebe immer Verlass ist. Manchmal ist was anderes stärker: Egoismus, Lebensgier, Lust auf Sex, Angst vorm Verlassenwerden, Sehnsucht nach Liebe (die von der Liebe des Kindes nicht gestillt werden könnte), Dummheit, Verantwortungslosigkeit.

Was fangen wir mit dieser Erkenntnis an? Ohne billiges Mitleid schinden zu wollen für Natascha D., Amelies Mutter: So genannte Problemfamilien entstehen nicht über Nacht. Zerrüttete Verhältnisse haben eine lange Vorgeschichte. Brutalität, die Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen, Empathiedefizite und ein Mangel an Sicherheit und Geborgenheit werden oft über Generationen ­vererbt. Was Kinder brauchen, wissen Menschen nämlich nicht instinktiv, sobald sie geboren oder gezeugt haben. Mit Kindern liebevoll zu leben, dafür braucht es Vorbilder, Lernprozesse, Unterstützung und halbwegs zufriedenstellende Lebensumstände (die dann zufriedenstellen, wenn man gelernt hat, seine Erwartungen mit der Realität in Einklang zu bringen).

Das wird freilich gerne ignoriert. Wir glauben an die ins­tinktive, alle Schwierigkeiten bezwingende Mutterliebe. Eine Mutter weiß das. Eine Mutter kann das. Eine Mutter fühlt das.

Wenn Mütter sich irren, nicht weiterwissen, gravierende Fehler machen, dann sind sie ein Missgriff der Natur. Rat zu brauchen, Hilfe zu suchen, gar mit einschlägigen Behörden zu tun zu haben, ist eine Schande. Deswegen vertuschen es Mütter häufig, wenn sie mit den Kindern nicht zurechtkommen, vor sich selber und vor anderen. Und auch die einschlägigen Behörden zögern oft einzugreifen: Sie wollen auffällig gewordenen Frauen noch eine Chance geben, nicht voreilig den Stab über sie brechen, ebenfalls an die Mutterliebe glauben. In Amelies Fall dauerte es offensichtlich viel zu lange, bis auffiel, dass sich ihre Mutter (der man schon einen Sohn abgenommen hatte) nicht mehr auf dem Jugendamt meldete und das Kind nicht mehr in den Kindergarten brachte. Aus Personalmangel, aus Schlamperei oder weil fälschlich angenommen wurde, dass ­Natascha D. ihre Tochter schon beschützen würde?

Nein, das ist kein Plädoyer dafür, Müttern generell zu misstrauen. Das heißt nur, dass Klischees misstraut werden muss, zum Beispiel dem Klischee, Mutterliebe sei auf jeden Fall in der Lage, soziale Missstände zu kompensieren. Manchmal schafft sie das. Manchmal wird sie jedoch von den Verhältnissen schon im Keim erstickt. Und was die Vaterliebe anlangt, so haben leider gerade die Amelies meistens Väter, auf deren Liebe ebenfalls kein Verlass ist.

[email protected]

www.elfriedehammerl.com