Meinung

Machbarkeitsmythos

Der Mensch ist ein freies Wesen und hat die freie Wahl. Warum hat sich die alte Frau nicht für ein schöneres Leben entschieden?

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Jetzt lebt die alte Frau schon so lang und will nicht schuld sein. An nichts. Nicht am Klimawandel, nicht an den Verschleißerscheinungen ihres Körpers, nicht an dem, was ihre Kinder nicht erreicht haben. Stur weist sie jede Verantwortung von sich.

Ihr übergebt uns einen zerstörten Planeten!, werfen ihr ihre Enkel vor, doch die alte Frau sagt: Nix da "ihr". Sie hat dem Planeten nicht vorsätzlich geschadet. Der Schaden, den sie unwissentlich und unwillentlich angerichtet haben mag, hält sich in Grenzen. Wenn der Planet zugrunde geht, dann doch wohl eher an leck geschlagenen Öltankern auf den Weltmeeren und dem CO2-Ausstoß von Typen, die übers Wochenende auf die Malediven jetten. Sie selber war mit 18 zum ersten Mal am Meer, in Lignano, ihr Beitrag an seiner Verschmutzung darf also als moderat angesehen werden. Beschränkt nimmt sie alles persönlich. Dabei sollte sie die Dinge doch pauschal sehen. Also, pauschal auf ihre Alterskohorte bezogen. Ihr habt den Planeten ausgebeutet, sagen ihre Enkel, euer verschwenderischer Lebensstil hat ihn zugrunde gerichtet! Die alte Frau faselt was von ärmlicher Kindheit. Und danach allenfalls bescheidener Wohlstand, sagt sie.

Was du bescheidener Lebensstil nennst, war halt global gesehen unbescheiden, sagen die Enkel. Das hält die alte Frau für möglich. Allerdings weist sie darauf hin, dass auch der Lebensstil der Enkel global gesehen alles andere als asketisch ist. Wäre sie kleinlich, käme sie vielleicht sogar zu dem Schluss, dass die Enkel in kürzerer Zeit schon fast genauso viel Ressourcen verbraucht haben wie sie in ihrem langen Leben, weil der Wohlstand, in dem sie aufgewachsen sind, den ihren bei Weitem übertrifft. Das gilt doch nicht für alle Enkel, sagen die Enkel. Stimmt, sagt die alte Frau, da seht ihr, wie das ist. Oder was das ist: eine Klassenfrage, wie die meisten Fragen auf der Welt.

Die Enkel finden diesen Verweis total retro, es missfällt ihnen, wie die alte Frau sich als macht-und einflusslos inszeniert. Sie sehen sich lieber als Nachfahren einer mächtigen Truppe von verantwortungslosen Zerstörern, das macht genetisch entschieden mehr her.

Was du bescheidener Lebensstil nennst, war halt global gesehen unbescheiden, sagen die Enkel.

Elfriede Hammerl

Jetzt ist die Alte auch noch krank und fällt unserem Gesundheitssystem zur Last, weil sie nachlässig mit ihrem Körper umgegangen ist. Doch, ja, bestimmt. Dass Gesundheit machbar ist, weiß man. Bewusste Ernährung, Sport in frischer Luft, genügend Schlaf, eine positive Einstellung zu was auch immer, wenig Konflikte-das sind die Bausteine für ein langes, beschwerdefreies Leben. Die alte Frau sagt, sie hat sich die Arbeit bei künstlichem Licht, das Wohnen an der Hauptverkehrsstraße, die Geldsorgen, die schlaflosen Nächte, den Ärger mit dem Ex und die kaputten Knie nicht justament ausgesucht, aber ihre Kinder lassen derlei Ausreden nicht gelten. Sie fassen das Versagen der Mutter kurz und bündig zusammen: falsche Gattenwahl, falsche Berufswahl, falsche Wohnungswahl. Der Mensch ist ein freies Wesen und hat die freie Wahl, ob er sich für einen erfüllenden Beruf, ein Haus im Grünen und eine glückliche Partnerschaft entscheidet oder für permanente Verstöße gegen seine physische und mentale Unversehrtheit, von S wie Scheidungsstress bis zu S wie Salamibrot statt Biohuhn oder veganem Tofu-Curry. Neue Kniegelenke!, rufen die Kinder, weißt du, was die kosten? Was das die Allgemeinheit kostet? Die alte Frau behauptet, dass ein Verzicht auf Salamibrote ihre Knie nicht gerettet hätte, aber, ehrlich, wer weiß das so genau? Du bist so negativ, sagen die Kinder, du nimmst immer nur das Schlechteste an, deswegen passiert es dann. Man nennt das Self Fulfilling Prophecy.

Die Kinder, die nicht zuletzt dank mütterlicher Zuwendungen schon lang nicht mehr an Hauptverkehrsstraßen wohnen, beabsichtigen nicht, neue Kniegelenke zu brauchen oder sonst wie gebrechlich zu werden. Ihnen schwebt vor, dass sie mit circa 95 nach einem Sektfrühstück vom Pferd kippen werden, wenn denn gestorben werden muss. Sterben ja, aber bitte ohne Siechtum.

Ein guter Plan. Er setzt allerdings voraus, dass die Kinder noch mit dem Reiten anfangen müssen, und da sind wir schon bei der nächsten Schuld, die die alte Frau nicht verantworten will. Nämlich: ihren Erziehungsversäumnissen. Zum Beispiel hat sie die Kinder nicht sportlich erzogen. Deswegen deren mangelndes Geschick bei Tennis und Golf, von ihrer Ahnungslosigkeit in Sachen Polo ganz zu schweigen. Wer erst im Erwachsenenalter mit dem Wellenreiten beginnen hätte können, hat entscheidende Jahre bereits verpasst, genauso wie einer, der als Kind nicht ans Klavier gezwungen wurde, nie mehr ein guter Pianist wird. Wer weiß, welche Spitzensportler, Künstlerinnen oder Genies der Welt verloren gegangen sind, weil die alte Frau ihre Kinder nicht nachdrücklich genug gefördert hat! Nein, im Ernst, hat sie sich das schon einmal gefragt?

Ja, sagt die alte Frau, aber da ist der Ball jetzt wirklich bei euch. Ich sage nur: Falsche Mutterwahl. Euer Fehler.

Sie macht es sich schon wieder zu leicht. Kinder und Enkel schnappen nach Luft.